Der Gang durch das Ried. Elisabeth Langgässer
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Читать онлайн книгу Der Gang durch das Ried - Elisabeth Langgässer страница 8
Die Flasche im Arm lief er weiter und kam an einer Schonung mit jungen Buchen vorbei, die man eingesetzt hatte, um Mischwald zu haben, der trotz dieses mageren Bodens schön zu gedeihen schien; hierauf an den riesigen Eisenmasten der Hochspannungsleitung vorüber, die, je nach der Beleuchtung, bald mystischen Tiergerippen, bald Tempelpforten gleichen, die in ein Heiligtum führen, dessen Wände unsichtbar sind; zuletzt über sandiges Dünengelände, das die Truppen zu künstlichen Hügeln, zu Schluchten, Schießscharten, Höhlen gestaltet und aufgetrieben hatten wie den Bauch einer Geiß, wenn sie trocken steht, geschwängert mit Geschossen, nach denen diese Erde wie nach den Eisengerüsten und den Buchenreisern verlangte. . . diese Erde, die nur davon lebt, sich beständig verändern zu lassen, und nicht weiß, wie sie aussehen würde, wenn nicht Menschen über sie hergefallen und von ihr angereizt worden wären, das Bild ihres eigenen Wesens aus ihr hervorzutreiben. Doch war, was auch herauskam, schon wieder dunkel geworden, und wenn man es befragte, so gab es nicht ja oder nein, sondern, ach, wie vieles zur Antwort, das durcheinanderging . . . Diese Sandschlucht zum Beispiel – der Mann sah hinüber und hörte Knabenstimmen – was wollte die doch bedeuten?
Er näherte sich, nahm Kinder wahr, die den letzten Tag der Kartoffelferien mit Räuberspielen verbrachten und, auf Händen und Füßen kriechend, die Ränder bewimmelten. Nun brachten sie einen Gefangenen her und warfen ihn in die Höhle, sie fesselten seine Hände und erschossen ihn dann mit Scherzpistolen, deren Zündplättchen in der klaren Luft hart und belustigend krachten. Das Kind sank wahrheitsgetreu in den eckigen Knien zusammen, kugelte seitwärts zur Erde, zuckte und legte sich hin. Die Revolvertruppe zog wieder ab und ließ nur zwei Wächter zurück, die sich hoch auf der Schlucht postierten. »Bon jour«, sagte Aladin laut und dann erst Guten Tag, als er am Eingang stand. Die Buben sahen ihn an und stoben eilig davon, der Tote rührte sich nicht. »Brav! brav!« nickte Aladin, von wilder Freude erfüllt, und starrte besessen hin. In der Ferne tobten die andern und sammelten sich unter Pfiffen, ihre Stimmen entfernten sich rasch und liefen, da nirgends ein Echo war, wie runde feste Tropfen an einer Ölhaut ab.
Mit einem Ruck fuhr der Knabe empor und blickte den Fremden an. Sie waren beide erschrocken, der Mann bedeckte die Augen und flehte: »liegen bleiben!«
»Nä«, gab der Junge patzig zurück, seine Angst unter Frechheit verbergend.
Der Mann warf ein Silberstück hin: »Pst, pst, nicht herauskommen«, bettelte er, »bis der Franzos’ um die Ecke ist.«
Der Junge begriff. »Spielt ihr mit?«
»Ja«, flüsterte Aladin.
»Ach so«, er steckte das Geldstück ein und legte sich auf den Rücken; wie ein Sandvogel rannte Aladin mit vorgestrecktem Kopf und lächerlich kurzen Schritten durch die künstlichen Dünen davon.
Erschöpft blieb er endlich am Eingang der Lagergrenze stehen und drehte sich vorsichtig um. Es war niemand nachgekommen; es war nicht herausgekommen, das kleine Tote dort... Weil der Weg ihn hinangeführt hatte, umfingen die Blicke des Mannes das eben begangene Land. Die Mittagssonne durchtränkte den Himmel mit feuerblauem Glanz und kerbte den unbewegten Saum der hohen Kiefernwälder, deren Kreis die Schonung der Buchenstämme und den Zug der Maste umschließt, tiefschwarz am Horizont ein. Diesen Blick – er kannte ihn doch aus einem anderen Leben, das er verlassen hatte, um Aladin zu werden. Er war ihm vertraut, freilich so, als ob er vorher von Stangen umrahmt und eingeschlossen gewesen, jetzt aber offen wäre. Richtig, hier hatten Baracken gestanden, die nach dem Vertrag zerstört werden mußten, als die Truppen das Land verließen. Man konnte noch deutlich bemerken, wie das Gras ihren Grundriß bezeichnete, und die ausgesparte Fläche erkennen, welche Wohnraum gewesen war. Sie lag dürr und tot, gleichsam ausgebrannt, wie es Aladin vorkam, und man konnte sich denken, daß Klette und Beifuß sie nur langsam, fast widerwillig, besiedeln und dem übrigen Boden angleichen würden. »Wüst!« sagte der Mann und empfand gleich darauf einen stechenden Schmerz im Hinterkopf: eine reißende Klarheit, die ihm das Hirn wie ein Fremdkörper zu zersprengen drohte. . . die Bodenfläche entflammte sich, wurde glühend und ockergelb, von einem Himmelsrand abgegrenzt, dessen Bläue nicht zu ertragen war . . . hier hatten doch die Männer der Fremdenlegion gelegen, die deutschen Legionäre, gleich hinter dem Militärgefängnis, dessen Backsteinbau mit den kleinen, hoch eingesetzten Fenstern dort drüben zu sehen war? Und weiter. . . was weiter, Aladin? Der Schmerz hatte nachgelassen, eine dumpfe, betäubende Leere erfüllte seinen Kopf. In einiger Entfernung ging eine große Säge beharrlich auf und nieder; sie schien ihm die harten Nähte seiner Hirnschale aufzubeißen, ihm schrecklich helfen zu wollen . . . Ruhig – es war keineswegs Gottes Säge, deren Zähne ihn raspelten; er sah jetzt deutlich das Eisen durch die mageren Büsche blitzen und ging erschöpft darauf zu. Ja, wirklich: da sägte einer in dem offenen Gartenhaus, das zu der eingezäunten Gemüsepflanzung gehörte, die schon in deutschen Zeiten dem Anbau von Borratsch, Dill, von Blumen und Obst hatte dienen müssen, jetzt aber nichts anderes mehr als ein verwilderter Grasgarten war, den das graubraune Laub der Zwetschgenbäume dicht überrieselt hatte.
»He, Kamerad!« rief Aladin, der sich selbst und den Ton der Säge nicht länger ertragen konnte. Der andere hörte ihn nicht, hielt die Stirne gesenkt und schaffte mit verbissenem Ausdruck weiter. Der Wanderer trat an den Gartenzaun und merkte: da war was nicht richtig; der Mann zersägte ein Schemelchen und hatte schon eine Bank, einen Tisch, ein Regal zerkleinert, deren Teile neben ihm lagen. Nun ja, hier erwischte wohl jeder den andern auf einer Missetat; und fragte er, Aladin, diesen Mann, so würde der rückwärts deuten, mit den Schultern zucken wie alle und ihm zur Antwort geben, dieses Zeug sei zu nichts anderem wert, als daß man es eingrabe, kleinhacke, säge, verbrenne und vergesse. Ein Zeitalter wurde zerhauen, und es war nicht gut, wie ein Wildschwein in dem Boden nach Trüffeln zu suchen. Wer suchte, der fand wohl – doch nichts, was ihm zur Nahrung dienen und seinen Bauch, wenn er abgesackt war, aufs neue mästen könnte. Eingraben . . .! Zuschütten . . .! befahl sich der Mann, salutierte, stand stramm: zu Befehl. Er schulterte die Flasche, ging im Paradeschritt ab. Marschieren. Marschieren. Marschieren. Da hinten schloß sich das Totenfeld mit seinen steinernen Kammern; das Stumme, das Niegesagte, sank wie ein Zug Fische zum Wassergrund, wenn es kälter wird und die Decke vereist, wenn die Netze hereingeholt und geflickt, die Korken erneuert werden . . . Korken! Jetzt wußte er endlich, wo er ihn hernehmen sollte, wo sein Brot für den Winter gebacken würde, sein Feuerchen knackte und sprang. Er mußte zum Altrhein hinüber, dorthin, wo die Wege sich gabelten – der eine in die Irrenanstalt, der andere zu den Höfen mit Fischpacht und Bootshäusern führte. Die Netze. Wenn sie im Wasser nichts mehr zu suchen hatten, so fuhren sie durch das Trockene und schleiften die Hauswand entlang; sie ratschten über den Boden und hatten ihn eingefangen: keine fette Schleie, ach nein,