Im Untergrund. Will Hunt

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Im Untergrund - Will Hunt

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das Lehmufer wandern; wie Sandbänke in einem Fluss sah der Schlamm aus und war besiedelt von Kolonien winziger Albinopilze. Während der Laichsaison schwimmen in diesem Wasser Aale.

      Vermischt mit dem grünlichen Abwasser floss hier der Wallabout Creek, erklärte mir Steve, ein natürlicher Bach, der früher in die Wallabout Bay entwässert hatte, wo sich heute der Navy Yard befand. Auf einer Karte von 1766 war der Fluss noch eingezeichnet, aber als die Stadt immer weiter wuchs, wurde er unter die Erde verlegt und verschwand aus den Augen der Welt.

      An der Oberfläche war New York ein wildes, ungestümes Tier: grummelnd und knurrend stieß es Dampf aus und spuckte Menschenmassen aus seinen Öffnungen. Aber hier unten, wo einer der ursprünglichen Flüsse friedlich um meine Füße plätscherte, fühlte sich die Stadt ruhig und gelassen an, sogar verletzlich. Die Begegnung war so intim, dass sie mir fast unangenehm war: ein Gefühl, als ob man jemanden beim Schlafen beobachten würde.

      Als wir die Leiter wieder hochkletterten und durch den offenen Gully zurück an die schneidend kalte Luft kamen, war drei Uhr morgens vorbei. Ich streckte den Kopf aus dem Loch und ein junger Mann auf dem Fahrrad musste einen Bogen um mich machen. Quietschend kam er zum Stehen, drehte sich um und fragte atemlos: »Wer seid ihr?«

      Steve richtete sich auf, streckte die Brust heraus, als stünde er auf der Bühne, warf den Kopf in den Nacken und zitierte Robert Frosts »Ein Bach in der Stadt«:

       In einen tiefen Kerker unter Stein

       wurde der Bach verbannt

      in stinkendes Abwasserdunkel,

       dort zu leben und zu fließen –

      dabei hatte er gar nichts verbrochen,

      nur vielleicht die Angst zu vergessen.

      Mit jedem Ausflug unter die Erde brach die harte Schale der Stadt ein bisschen mehr auf und gab ein neues Geheimnis preis, immer gerade so viel, dass ich noch ein Stück tiefer gelockt wurde. Bei jeder U-Bahn-Fahrt hatte ich ein Notizbuch dabei, schaute aus dem Fenster und vermerkte die Stellen, an denen Lücken in den Wänden zu sehen waren, die möglicherweise zu verlassenen Gleisen führten, zu »Geisterbahnhöfen«, wie sie von den Graffitisprayern genannt wurden. Ich folgte dem Verlauf von unterirdischen Bächen und suchte nach Stellen, an denen ich mein Ohr an einen Rost halten und darunter Wasser gluckern hören konnte. In meinem Wandschrank hingen Anglerstiefel und schlammige Klamotten, und ich trug jederzeit eine Stirnlampe im Rucksack bei mir. Ich begann mich immer langsamer durch die Stadt zu bewegen, blieb bei Lüftungsschächten der U-Bahn, bei Gullys und Baustellen stehen und versuchte, ein Bild von den Eingeweiden der Stadt zusammenzusetzen. Meine innere Landkarte New Yorks ähnelte immer stärker einem von verborgenen Faltungen, geheimen Durchgängen und unsichtbaren Nischen durchzogenen Korallenriff.

      Eine Weile bewegte ich mich wie in Trance durch die Stadt und stellte mir vor, dass jedes Gullyloch, jeder dunkle Treppenschacht und jede Bodenluke im Bürgersteig in eine andere Dimension führten. Ich entdeckte ein Backsteingebäude in Brooklyn Heights, das von außen genau wie die anderen Häuser der Straße aussah – außer, dass die Tür aus schwerem Industriestahl bestand und die Fenster verdunkelt waren: Es war ein getarnter Entlüftungsschacht, der hinunter in die U-Bahn führte. Auf der Jersey Street in SoHo fand ich einen alten Gully, der in den unterirdischen Croton Aqueduct führte, den 1842 vier Männer mit einem kleinen Holzfloß, das sie Croton Maid getauft hatten, auf einer sechzig Kilometer langen Odyssee durchs stockdunkle Gewässer von den Catskills bis nach Manhattan befahren hatten. Unterhalb der Atlantic Avenue in Brooklyn fand ich einen 1862 verlassenen Eisenbahntunnel, der bis 1980 vergessen war, als der neunzehnjährige Bob Diamond in einen Gully einstieg und die riesige Echokammer darunter entdeckte. (Diese Entdeckung versetzte die Stadt in einen kurzen Faszinationstaumel, und Fotografen eilten herbei, um Bilder des jungen Bob zu schießen, wie er durch den mysteriösen Tunnel kroch.) Auf einer Insel in der Bronx schloss ich mich einer Schatzsuche an, bei der nach einem verlorenen Dollarbündel des verschwundenen Erpressungsgelds gesucht wurde, das der Entführer von Charles Lindberghs Baby angeblich dort vergraben hatte. Ich folgte den Gerüchten von düsteren, im U-Bahn-Netz verborgenen Kammern, deren Wände mit hundert Jahre alten Graffiti bedeckt waren: Räume, die so unberührt und vergessen waren, dass der Sand in Kaskaden von der Decke rieselte, wenn man zu laut sprach. Ich suchte nach einem alten Gebäude in Midtown Manhattan, in dem es im tiefsten Kellergeschoss ein Loch im Boden geben sollte, das sich auf einen schnell fließenden Fluss öffnete; tagsüber, hieß es, saßen alte Männer um das Loch und angelten Forellen. Diese Storys erzählte ich so oft, bis meine Freunde sie nicht mehr hören konnten; sie stöhnten, wenn ich sie bei Spaziergängen durch die Stadt ständig darauf hinweisen wollte, was sich gerade unter unseren Füßen befand. Aber zu dieser Zeit konnte ich schon nicht mehr anders.

      Ich kletterte hinunter und begab mich in Gefahren, die sogar mich selbst erstaunten. Spätabends stieg ich über das Schild am Bahnsteigende, auf dem DO NOT ENTER OR CROSS TRACKS (Betreten der Gleisanlage verboten) stand, schlich mich auf den Steg und sprang von dort hinunter auf die Gleise, wo es finster wie in einem Schornstein und an Sommerabenden heiß wie in einem Hochofen war. Anfangs war ich da unten mit meinem Cousin Russell unterwegs: Wir rannten im Dauerlauf durchs Dunkel, spürten erst einen Lufthauch und dann ein tiefes Beben an den Füßen. »Zug kommt«, flüsterten wir. Wir hörten, wie die Weichen einrasteten, dann kam das Licht eines riesigen Scheinwerfers um die Kurve und erleuchtete die Tunnelwand: Blitzschnell kletterten wir hoch auf den Steg und drückten uns in die Vertiefung von Notausgängen, während die Bahn an uns vorbeidonnerte und dabei einen Wind erzeugte, der uns leicht hätte mit sich reißen können. Bald fing ich an, mich auch allein dort unten herumzutreiben, spontan, wenn ich Lust dazu hatte. Spätabends nach einer Party oder einem langen Tag in der Bibliothek wartete ich am Gleis, sah die U-Bahn kommen und entschied mich in letzter Sekunde, sie vorbeifahren zu lassen und ihr in den finsteren Tunnel zu folgen. Mehrere Male ging es beinahe schief, ich sah die blauen Funken der vorbeifahrenden Räder fliegen und war kurzzeitig taub vom Donnern des Zuges. Mitten in der Nacht ging ich dann wie betäubt nach Hause, das Gesicht vom Stahlstaub verschmiert, fühlte mich neben mir und doch hellwach, als sei ich gerade aus einem intensiven Traum erwacht.

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      Eines Nachts bemerkte mich ein U-Bahn-Fahrer im Tunnel, und als ich zurück auf den Bahnsteig kletterte, warteten schon zwei Polizisten auf mich: der eine klein und dick, der andere groß und dünn, beide jung und aus der Karibik stammend. Sie bogen mir die Arme auf den Rücken, drückten mich gegen die Wand und leerten meinen Rucksack auf dem Boden aus – sie hatten zwar guten Grund, mich festzunehmen, ließen mich am Ende aber doch gehen. Völlig fertig saß ich hinterher auf einer Bank und wusste haargenau, dass man mich, wenn ich nicht weiß wäre, in Handschellen abgeführt hätte. Aber als ich in derselben Nacht zu Fuß nach Hause ging, ertappte ich mich, wie ich schon wieder auf der Straße stehen blieb und in Ablaufgitter und Gullys spähte.

      In den dunkelsten Schichten traf ich auf die Mole People – obdachlose Männer und Frauen, die in den unsichtbaren Nischen und Gewölben der Stadt hausten. In einer Nacht war ich mit Steve, Russell und ein paar anderen Urban Explorern unterwegs und lernte eine Frau kennen, die sich Brooklyn nannte und seit dreißig Jahren unter der Erde lebte. Sie hatte ein vernarbtes Gesicht und auf dem Kopf aufgetürmte Dreadlocks. Ihr Zuhause, das sie als »ihren Iglu« bezeichnete, war ein in einem Vorsprung des Tunnels versteckter Alkoven, den sie mit einer Matratze und ein paar schiefen Möbelstücken ausgestattet hatte. Brooklyn hatte Geburtstag, und wir ließen eine Flasche Whiskey herumgehen, sie sang ein Medley aus Tina-Turner- und Michael-Jackson-Songs, und eine Weile lachten alle. Aber dann legte sich bei Brooklyn irgendein Schalter um, aus dem Gesang wurde unverständliches Lallen, und sie sah Dinge, die nicht da waren. Ihr

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