Im Untergrund. Will Hunt

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Im Untergrund - Will Hunt

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höhlenlosen Landschaften siedeln und nie in Kontakt mit unterirdischen Räumen kommen – wie zum Beispiel die Völker der Kalahari-Wüste oder der sibirischen Steppe –, gibt es Mythen von einem vertikalen Kosmos mit einer unterirdischen Sphäre, in der es vor Geistern wimmelt. Sobald wir die Schwelle einer Höhle übertreten, spüren wir eine reflexartige Vorahnung unseres eigenen Todes, was heißen soll, dass wir mit dem einen Ding in Berührung kommen, auf dessen Vermeidung uns die natürliche Auslese konditioniert hat.

      Und trotzdem zögern wir vielleicht an der Schwelle zum Untergrund, aber dann betreten wir ihn doch. An jenem Tag in der Toskana stieg Leonardo da Vinci natürlich hinunter in die Finsternis. (In einer Höhlenwand tief im lichtlosen Bereich entdeckte er die Fossilien eines Wals, was ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigen und inspirieren sollte.) Praktisch jeder zugängliche Höhlenraum des Planeten weist Spuren unserer Vorfahren auf. Archäologinnen und Archäologen sind auf dem Bauch durch schlammige Gänge in den Höhlen Frankreichs gerobbt, haben lange unterirdische Flüsse in Belize durchschwommen und viele Meilen im Innern der Kalksteinhöhlen Kentuckys zurückgelegt: Überall haben sie die Spuren unserer Vorfahren gefunden, die durch Felsspalten in die Erde geklettert sind und sich mit Harzfackeln oder Talglichtern den Weg durchs Dunkel gesucht haben. Dort begegneten unsere Ahnen einer fremden Welt, die völlig von dem abgetrennt war, was sie auf der Erdoberfläche kannten: eine Welt, die dunkler war als jede Nacht, in der die Echos hallten und Stalagmiten wie Zähne von Drachen aus der Erde ragten. Ausflüge in die lichtlose Zone sind möglicherweise die älteste kontinuierliche Kulturpraxis der Menschheit. Die archäologischen Hinweise auf Besuche unter der Erde gehen Hunderttausende Jahre zurück, lange bevor der Homo sapiens existierte. Keine andere Tradition, schreibt der Mythologe Evans Lansing Smith, »bringt uns als Menschheit enger zusammen als der Abstieg in die Unterwelt«.

      Als ich anfing, meine Faszination für den Untergrund New Yorks genauer unter die Lupe zu nehmen, merkte ich, dass sie Teil eines viel größeren, älteren und universelleren Rätsels war. Entgegen der grundlegendsten Logik der Evolution, trotz aller konkreten unterirdischen Gefahren, trotz eines Chors tief sitzender Ängste, die uns ans Licht zwingen wollen, und obwohl uns der eigene Tod konkret vor Augen steht, gibt es im tiefsten Inneren unserer Psyche einen Drang, der uns in die Finsternis lockt.

      Mehrere Jahre lang pendelte ich wie ein Jo-Jo zwischen New York und weit entfernten Ecken der Welt hin und her, immer auf der Suche nach dem nächsten Faden in unserem verworrenen Verhältnis zu unterirdischen Landschaften. Nach den feuchtkalten Tunneln unterhalb moderner Großstädte bewegte ich mich durch ältere, wildere Grotten, Gruben und Kavernen und schließlich durch die ewige Finsternis echter Höhlen. Überall ließ ich mich von anderen heutigen Inkarnationen des Hermes führen, die sich allesamt hervorragend in der Unterwelt auskannten und sich regelmäßig zwischen oben und unten hin- und herbewegten.

      »In den Keller hinuntersteigen heißt träumen«, schrieb der Philosoph Gaston Bachelard in Poetik des Raumes, »heißt sich verlieren in den fernen Gängen einer unsichtbaren Etymologie, heißt in den Worten unauffindbare Schätze suchen.« Ich ging unserem Verhältnis zur unterirdischen Welt in Mythologie und Geschichte nach, in Kunst und Anthropologie, Biologie und Neurowissenschaften. Ich fand ein Symbol, das verwirrend war in seiner Vielgestaltigkeit, eine Landschaft, so elementar für die Menschheitsgeschichte wie Wasser, Feuer und Luft. Wir gehen zum Sterben in die Unterwelt, aber auch, um aus dem Schoß der Erde wiedergeboren zu werden; wir fürchten uns vor allem Unterirdischen, aber wenn Gefahr droht, ist es unser erster Zufluchtsort. Unter der Erde verbergen sich unbezahlbare Schätze und giftige Mülldeponien; der Untergrund ist die Sphäre verdrängter Erinnerungen und strahlender Offenbarungen. »Die Metapher vom Untergrund«, schrieb der Forscher David L. Pike in seinem Buch Metropolis on the Styx, »lässt sich auf das gesamte Leben auf Erden ausweiten.«

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      Sobald man ein Bewusstsein für die Räume unter seinen Füßen entwickelt, spürt man, wie sich die Welt öffnet. Wenn wir uns in Gedanken den Tunneln und Höhlen im Untergrund der Erde zuwenden, entwickeln wir ein besseres Gespür für die vielen unsichtbaren Kräfte, die unsere Realität beeinflussen. Unsere Verbindung zum Untergrund öffnet eine Tür zu den rätselhaften Tiefen der menschlichen Fantasie. Wir steigen hinab, um das Ungesehene, das Unsichtbare zu sehen – wir sind auf der Suche nach der Erleuchtung, die nur im Dunkeln zu finden ist.

       2. Kapitel

      DIE UNTERQUERUNG

       Ich hielt das Haupt nicht lang in solcher Lage, So glaubt ich hoher Türme viel zu schauen; Drum ich: »Wie heißt die Stadt dort, Meister, sage?«

      DANTE, 31. GESANG, Die Hölle

      Die ersten Fotos des Pariser Untergrunds stammten von einem Mann mit einer wilden roten Mähne, der sich Nadar nannte. Nadar sei »ein Inbild erstaunlicher Lebenskraft«, schrieb Charles Baudelaire – Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zählte Nadar zu den auffälligsten und exzentrischsten Persönlichkeiten in der Kulturmetropole Paris. Er war ein Entertainer, ein Dandy, Freund und Fürsprecher der Bohemiens und Künstler; insbesondere aber war er der wichtigste Fotograf der Stadt. Mit seinem prunkvollen Studio im Zentrum der Stadt war Nadar Pionier und Wegbereiter des Mediums Fotografie. 1861 erfand Nadar eine batteriebetriebene Beleuchtung und setzte als einer der Ersten in der Geschichte der Fotografie Kunstlicht ein. Um die Macht seiner »Wunderlampe«, wie er sie nannte, zu demonstrieren, machte er sich daran, an den dunkelsten und verborgensten Stellen zu fotografieren, die er finden konnte: in den Abwasserkanälen und Katakomben unter der Stadt. Im Verlauf mehrerer Monate machte er Hunderte von Aufnahmen in der unterirdischen Finsternis, jeweils mit einer Belichtungszeit von achtzehn Minuten. Die so entstandenen Bilder waren eine Offenbarung. Die Pariser wussten natürlich, dass sich unter ihren Straßen ein Gewirr von Tunneln, Gräbern und Aquädukten befand, aber als Orte waren sie immer abstrakt geblieben, Gegenstand geflüsterter Gerüchte, wenig mehr. Nadar machte die unterirdische Landschaft zum ersten Mal für jedermann sichtbar, und damit begann die intensive Auseinandersetzung der Stadt Paris mit ihrer Unterwelt: eine Verbindung, die im Laufe der Zeit immer seltsamer wurde, obsessiv und wahrscheinlich enger als in jeder anderen Stadt der Welt.

      Anderthalb Jahrhunderte nach Nadar traf ich zusammen mit Steve Duncan und einer Handvoll anderer Urban Explorer in Paris ein; wir wollten das Verhältnis der Stadt zu ihrem Untergrund auf eine Art erforschen, die bis dahin noch niemand versucht hatte. Wir planten eine Unterquerung – eine Wanderung von einem Stadtrand zum anderen, ausschließlich auf unterirdischen Wegen. Steve hatte diesen Katakomben-Trip daheim in New York ausgetüftelt: Monate hatten wir mit der Planung verbracht, hatten alte Stadtpläne studiert, uns mit Pariser Explorern ausgetauscht und potenzielle Routen entworfen. Vom Konzept her war es eine lupenreine Expedition. Wir wollten die Katakomben außerhalb der südlichen Stadtgrenze in der Nähe der Porte d’Orléans betreten; wenn alles nach Plan lief, würden wir jenseits der nördlichen Stadtgrenze nahe der Place de Clichy aus der Kanalisation wieder auftauchen. Luftlinie waren das nicht einmal zehn Kilometer, ein gemütlicher Spaziergang, den man vor dem Mittagessen machen konnte. Aber die unterirdische Route – der »Wurmweg« sozusagen – würde schmutzig und schwierig werden, mit vielen Umwegen, Richtungsänderungen, Haken und Schlenkern. Wir bereiteten uns auf einen zwei- bis dreitägigen Treck vor, bei dem wir die Nächte unter der Erde verbringen würden.

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      An einem milden Juniabend saßen wir zu sechst am südlichen Pariser Stadtrand in einem nicht mehr benutzten Eisenbahntunnel, der zur petite ceinture gehörte, dem »kleinen Gürtel«, einer seit Langem stillgelegten Ringbahn rund um Paris. Den Tag hatten wir mit letzten Besorgungen verbracht, jetzt war einundzwanzig Uhr vorbei, und die Lichtpunkte an den beiden Enden des Tunnels wurden allmählich schwächer. Alle waren schweigsam, und die Strahlen unserer Stirnlampen tanzten nervös

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