Im Untergrund. Will Hunt

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Im Untergrund - Will Hunt

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waren jetzt seit siebenundzwanzig Stunden unter der Erde. Ich hatte getrockneten Schlamm in den Ohren und rund um die Nasenlöcher.

      »Ich komme mir schon wie ein Höhlenmensch vor«, sagte Liz und machte ein paar Dehnübungen im Tunnel.

      »Ich finde ständig irgendwelches Zeug in meinen Haaren«, sagte Jazz und untersuchte eine Dreadlock. »Ich glaube, das war gerade Knochenmark.«

      Moe zog die Socken aus, holte ein kleines Jodfläschchen hervor und pinselte seine Zehennägel mit der orangefarbenen Flüssigkeit ein. Steve sah verwundert zu.

      »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich meinen Niednagel nicht desinfiziere, bevor ich im Abwasser herumlaufe?«

      Um in die Abwasserkanäle zu gelangen, mussten wir erst einen Weg durch Technikgänge finden, die uns unter die Seine führen würden. Wenn die Katakomben das Stammhirn der Stadt waren, dann war der Gang aus Beton, in dem wir jetzt herauskamen, ein Blutgefäß, eine bescheidene Verbindungsader zwischen wichtigeren Organen. Als wir weitergingen, merkten wir, wie nah wir der Erdoberfläche auf einmal waren: Von der Straße drangen gedämpft Gesprächsfetzen herunter, das Klacken hoher Absätze, das Bellen eines Hundes. Durch einen Entlüftungsschacht in der Wand sah ich einen orangefarbenen Schein – Licht aus einer Tiefgarage. Ich ging in die Hocke und beobachtete eine dunkelhaarige Frau, die in ihr Auto stieg, rückwärts aus der Parklücke ausscherte und wegfuhr, und ich kam mir vor, als sei ich ein Gespenst, das hinausspäht in die Stadt der Lebenden.

      Wir schafften es nicht, einen Zugang zum Versorgungstunnel unter der Seine zu finden, und mussten deshalb nach oben, wenn auch nur für einen Augenblick. Am Fuß eines Schachts mit einer an die Oberfläche führenden Leiter diskutierten wir die Choreografie unseres Ausstiegs in besorgtem Flüsterton.

      »Ich glaube, ich habe mehr Angst davor, erwischt zu werden, als hier unten ums Leben zu kommen«, flüsterte Moe.

      »Alles gut«, sagte Steve. »Wenn sie uns ins Gefängnis schmeißen, graben wir einfach einen Tunnel.«

      Chris’ Augen war leichte Besorgnis anzusehen.

      Wir kamen in der Nähe von Saint-Sulpice heraus, vor einem Laden mit luxuriöser Babykleidung. Weit und breit war keine Polizei zu sehen, und wir huschten durch leere Gassen in Richtung Seine. Am Ende einer menschenleeren Straße ging Steve in die Hocke und öffnete eine Klappe, und wir verschwanden alle schnell wieder unter der Erde. Als ich mich noch einmal umschaute, bemerkte ich den Blick eines Hilfskellners, der mich verständnislos anstarrte, während er die letzten Salz- und Pfefferstreuer abräumte.

      Der Tunnel unter der Seine war feucht und hatte eine schreckliche Akustik, wie in einem U-Boot. Selbst hier fanden wir Spuren von Eindringlingen: ein paar Tags, eine leere Literflasche Kronenbourg-Bier. Als wir unter dem Fluss hindurchgingen, stellte ich mir einen Querschnitt der Stadt vor, auf dem alle Ebenen übereinander zu sehen waren. Über uns ragte die mächtige Silhouette von Notre-Dame auf, dann kamen die Brücken und der Fluss. Tief unter uns verliefen die Röhren der Metro, in denen es bald schon wieder von Menschen auf dem Weg zur Arbeit wimmeln würde. Wir, sechs winzige, durchs Dunkel wandernde Lichtkegel, befanden uns in der mittleren Ebene dazwischen.

      Vor Nadar waren die dunklen, verschlungenen Abwasserkanäle eine Quelle unendlichen Grauens für die Pariser Bevölkerung gewesen. In Victor Hugos Die Elenden, dem Roman, der in den zwanzig Jahren vor der Veröffentlichung von Nadars Bildern entstand, versinnbildlicht die Kanalisation den Albtraum des Städters schlechthin. Victor Hugo schrieb: »Der Darm des Leviathan« ist »verschlungen, zerklüftet, das Pflaster aufgerissen, ausgehöhlt, von Schlammlöchern unterbrochen, hin und her geworfen von bizarren Krümmungen, auf- und absteigend ohne Logik, stinkend, wild, grausam, in Dunkelheit getaucht, mit Narben auf den Quadersteinen und Hiebwunden an den Mauern, entsetzlich.«

      In den 1850er-Jahren wurde die Kanalisation unter der Leitung von Georges-Eugène Haussmann, dem berühmten Stadtplaner von Napoleon III., vollständig saniert. Er ließ die Straßen aufreißen und fünfhundertsechzig Kilometer neue Abwasserrohre verlegen. Die Rohrstücke wurden mit einem Gefälle von drei Zentimetern pro Meter verlegt – eine allmähliche Steigung, die zu Fuß gut zu bewältigen, aber steil genug war, dass die Abwässer ständig im Fluss blieben. In ausgiebigen Testreihen wurde festgestellt, dass ein Tierkadaver im Laufe von achtzehn Tagen durch die Stadt gespült wurde, Konfetti schafften dieselbe Strecke in sechs Stunden. Doch das Grauen der Öffentlichkeit ließ sich auch durch diese Modernisierungsmaßnahmen nicht vertreiben. Außer den Kanalisationsarbeitern – den égoutiers –, die jeden Tag den Dreck aus den Röhren putzten, betrat niemand die Abwasserkanäle freiwillig.

      Wir waren gerade einmal neunzig Sekunden in der Kanalisation, da kam schon vorn der Warnruf von Steve: »Ratte!«

      Grau und so groß wie ein Kaninchen huschte das Tier durch den Abwasserbach zu unseren Füßen. Wir sprangen aus dem Wasser seitlich hoch, während die Ratte mit hin- und herzuckendem Schwanz zwischen uns hindurchlief und ein v-förmiges Kielwasser hinter sich herzog.

      Unsere Route in nördlicher Richtung würde uns durch den Abwasserkanal unterhalb des Boulevard de Sébastopol führen, einen großen, runden, aus Ziegeln gemauerten Kanal, durch den auch zwei dicke Wasserrohre liefen – eins für Trinkwasser, das andere für nicht trinkbares Frischwasser. Alle kleineren Zuleitungen entwässerten in diesen Kanal. In der Mitte war eine ein Meter dreißig breite Vertiefung, cunette genannt – dort floss im dampfenden Wasser alles, was irgendwie an der Oberfläche nicht mehr gewünscht war. Innerhalb einer Minute sichteten wir eine Spritze, einen toten Vogel, ein durchweichtes Metro-Ticket, eine zerstückelte Kreditkarte, ein Weinetikett, ein Kondom, einen Kaffeefilter, jede Menge Klopapier sowie schwimmende Kackhaufen. »Kanalisationsfrisch«, sagte Moe – Urbexer-Slang für »menschliche Exkremente«.

      Wir bereiteten uns gerade aufs Weitergehen vor – Liz spritzte allen Desinfektionsmittel auf die Hände, Moe schaltete das Gaswarngerät ein –, da meldete sich Steve.

      Er hatte eine SMS von Ian bekommen, unserem Wetterfrosch.

      REGEN ANGEKÜNDIGT, EVTL GEWITTER. KÖNNTE NASS WERDEN

      Steve machte die Runde und sah jedem von uns ins Gesicht, aber keiner zögerte. Wir waren seit einunddreißig Stunden unterwegs: Wir waren zu weit gekommen, um jetzt noch aufzugeben.

      »Wir müssen einfach die Augen offen halten«, sagte Steve. Solange wir den Wasserspiegel in der cunette und das Wasser aus den Zuleitungen im Blick hätten, würde uns nichts passieren, sagte er.

      Steve hatte wahrscheinlich mehr Ahnung von Kanalisationsschächten als sonst jemand auf der Welt, was allerdings nicht immer beruhigend, sondern auch nervenzerfetzend war, weil er uns haarklein schildern konnte, was im Fall eines Regenschauers mit uns passieren würde. Mit dem Finger ritzte er eine kleine Grafik an die schleimige Wand der Kanalisation, damit wir uns den exponentiellen Anstieg des Wassers vorstellen konnten. »Ich war schon in der Kanalisation von New York, London und Moskau«, sagte er. »Aber nirgendwo ist die Strömung so kräftig wie in Paris. Erst geht einem die Suppe bis über die Knöchel, dann an die Knie, und bevor man merkt, was los ist, steht’s einem schon bis zur Taille. In dem Augenblick, in dem wir sehen, dass der Wasserspiegel steigt, rasen wir sofort los zur nächsten Leiter.«

      Keiner sprach, während wir durch den Abwasserkanal gingen. Ich setzte sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen: Der Steg war glitschig, und meine Schuhe hatten wenig Profil. Die Luft war dick wie im Urwald, überall um uns gurgelte, rülpste und gluckerte es – so klang Paris, wenn es verdaute. Der Gestank war bei Weitem nicht so schlimm, wie man sich das vorstellen würde – es roch wie ein Kühlschrank, der mal geputzt werden müsste –, nistete sich aber trotzdem in jeder Faser ein. An den dunklen Kreuzungspunkten herrschte

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