Im Untergrund. Will Hunt
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Irgendwann donnerte ein Wasserfall aus einer Zuleitung und hallte schockierend laut durch den Kanal. Wir erstarrten mit aufgerissenen Augen und machten uns bereit, zur nächsten Leiter zu rennen.
»Nichts Bedenkliches«, sagte Steve. Nur ein Frühaufsteher, der in einer der Wohnungen über uns die Toilettenspülung betätigt hatte. »Die Geräusche werden hier unten ziemlich verstärkt«, meinte er. »Da klingt das kleinste Tröpfeln wie die Niagarafälle.«
Kurz nach seinen Besuchen in den Katakomben begann Nadar mit der Erforschung der Kanalisation. Mehrere Wochen lang war er im Verdauungstrakt der Stadt unterwegs, wobei seine Assistenten ihm die Ausrüstung über die Stege schleppen mussten. Im Vergleich zu den Katakomben stellten die Abwasserkanäle eine weit größere Herausforderung dar. Hier war er allen von der Erdoberfläche stammenden Widrigkeiten ausgesetzt, jedem Regenschauer und jeder Toilettenspülung, was es wesentlich schwieriger machte, die ungestörten achtzehn Minuten zu finden, die für die Aufnahme notwendig waren. Jedes Mal, wenn Nadar auf den Auslöser drückte, betete die gesamte Mannschaft, dass nichts dazwischenkommen würde. »In dem Augenblick, in dem alle Vorbereitungen getroffen und alle Hindernisse beiseitegeräumt worden waren«, schrieb Nadar später, »dem Augenblick, in dem die entscheidenden Handgriffe stattfinden sollten, legte sich urplötzlich, in den letzten Sekunden der Belichtung, ein aus dem Abwasser aufsteigender Nebelschleier auf die Platte – welche Verwünschungen wurden da laut gegen la belle dame oder le bon monsieur über uns, die unwissentlich gerade diesen Moment gewählt hatten, um ihr Badewasser abzulassen.«
Nadars Fotos aus der Kanalisation verliehen den düsteren Röhren einen eher romantischen Schimmer. Auf einigen war wieder die bärtige Holzpuppe zu sehen, jetzt im Overall des égoutier (Kanalarbeiters) in verschiedenen Arbeitshaltungen. Andere Bilder konzentrierten sich auf abstrakte geometrische Muster: ein Rohr, das sich in zwei Kanäle teilt, in geisterhafter Bewegungsunschärfe fließendes Abwasser. Wegen des vielen Dampfs in den Kanälen ist auf allen Bildern ein leichter Dunst zu sehen, als seien sie durch einen Schleier aufgenommen worden.
Journalisten und Kritiker waren auch diesmal wieder außer sich vor Begeisterung. In einer Zeitung wurde Nadar als Pionier porträtiert, der den Tücken und Gefahren des lang verschmähten Untergrunds die Stirn bot und diese Fotografien »halb erstickt von den giftigen Dämpfen der elektrischen Batterie in den bedrückenden Gewölben« aufnahm. Der Philosoph Walter Benjamin schrieb: »Damit werden dem Objektiv zum ersten Mal Entdeckungen zugemutet.«
Mit einem Mal rissen Menschen in ganz Paris die Gullydeckel auf. Spät in der Nacht kletterten sie die Abflussschächte hinab, zündeten eine Kerze an und gingen flanieren. 1865 beschrieb La Vie Parisienne einen mitternächtlichen Spaziergang in der Kanalisation als neue promenade. »Reizende Begegnungen sind dort möglich. Mir begegnete die hübsche Comtesse de T______, praktisch allein, und ich sah auch die Marquise D____ und plauderte mit Mlle N______, bekannt aus dem Varieté-Theater.«
Der Tag würde kommen, so die Vorhersage des Journalisten, an dem die Kanalisation eine größere Anziehungskraft ausüben würde als die grünen Parkflächen der Stadt. »Wenn es erst möglich ist, die Kanalisation auf Pferderücken zu besuchen«, schrieb er, »wird der Bois de Boulogne mit Sicherheit verlassen daliegen.«
Während der Weltausstellung 1867 öffnete die Stadt die Kanalisation für offizielle Touren, und Besucher aus ganz Europa drängten heran. Würdenträger und Royals, Diplomaten und Abgesandte stiegen eine eiserne Wendeltreppe nahe der Place de la Concorde hinab und setzten sich in einen Kahn, der ansonsten von Arbeitern zur Reinigung der Röhren benutzt wurde. »Eine Barke mit gepolsterten Sitzen, an den Ecken von Öllampen erleuchtet«, erinnerte sich ein Besucher. Damen mit eleganten Kopfbedeckungen und hochhackigen Schuhen, Spitzenschirme in der Hand, glitten durch die Ausscheidungen der Stadt. Die Kanalarbeiter spielten Gondoliere und manövrierten das Boot durch den Abwasserkanal. In einem Reiseführer der damaligen Zeit war zu lesen: »Wie allgemein bekannt, will kein Besucher, der etwas auf sich hält, aus der Stadt abreisen, ohne diese Unternehmung gemacht zu haben.«
In der Zwischenzeit genoss Nadar seine Rolle als Hermes von Paris, als Pariser Psychopomp und Vermittler zwischen allem Ober- und Unterirdischen. In den Jahren nach der Veröffentlichung seiner Fotografien veranstaltete er private Führungen durch die Kanalisation und die Katakomben und ging kichernden Grüppchen voran ins Dunkel. In einem begleitenden Essay zu seinen Bildern schrieb er: »Madame, gestatten Sie mir, Ihr Führer zu sein. Ich bitte Sie, meinen Arm zu nehmen – suivons le monde.«
Vor dem letzten großen Stück unseres Trecks kampierten wir am Ufer des unterirdischen Canal Saint-Martin: Es war ein breiter, gewölbter Tunnel, in dem grünes Wasser friedlich plätscherte; von sehr weit weg drang schwach das Morgenlicht ein. Es war gegen acht Uhr morgens – oben würden die Brasserien bald aufmachen und die Kellner das Besteck auf den Tischen verteilen. Wir hängten unsere Hängematten am Geländer entlang des Kanals auf, ein bisschen wie Bergsteiger, die im nackten Fels biwakieren. Steve meldete sich freiwillig, um aufzubleiben und Wache zu halten.
Ich lag in der Hängematte und dachte an Nadars Fotos. Die Sage von Phaeton fiel mir ein, in der er als junger Mann seinen Vater, den Sonnengott Helios, darum bittet, einmal mit dem Sonnenwagen über den Himmel fahren zu dürfen. Das Vierergespann rast los, und der Jüngling verliert schon bald die Kontrolle über die Pferde: Das Gefährt stürzt der Erde entgegen, die Hitze lässt die Flüsse austrocknen und Wüsten entstehen, auf Bergkuppen bricht Feuer aus, und schließlich fliegt Phaeton so niedrig, dass der Sonnenwagen ein Loch in die Erdoberfläche brennt. Licht strömt in die Unterwelt. Die Menschen drängen an den Rand des Lochs, wo sie zum ersten Mal direkt bis ins Reich des Hades blicken können, vom alles verbrennenden Flammenmeer und dem düsteren Asphodeliengrund bis zum tiefsten Schwarz des Tartaros. Sie sehen sogar König Hades und Königin Persephone auf dem Thron sitzen und zu ihnen hochblinzeln. Die Menschen sind zu Tode erschreckt über diese infernalische Landschaft, die sie immer gefürchtet haben; und trotzdem weichen sie nicht vom Rand des Lochs zurück. Sie spähen weiter hinab in die Düsternis und können den Blick nicht abwenden.
Wir hatten vielleicht zweieinhalb Stunden geschlafen, als Steve ein Ausflugsboot bemerkte, das den Kanal heruntergeglitten kam. Steve schüttelte uns schnell wach, bevor der Kapitän uns entdecken und die Polizei rufen konnte, und wir verkrümelten uns wieder in der Dunkelheit.
Der letzte Abschnitt unserer Reise war der Abwasserkanal unter der Avenue Jean-Jaurès – ein langer, viereckiger, gesichtsloser Korridor, durch dessen Mitte ein Fäkalienstrom von der Breite einer einspurigen Straße floss. Steve zufolge gingen wir am Hauptkanal entlang: Das Abwasser von praktisch ganz Paris floss zu unseren Füßen.
Wir waren jetzt seit achtunddreißig Stunden unterwegs und spürten die Nähe zu unserem Ziel. Eigentlich hätten wir triumphierend, erleichtert oder stolz sein müssen, aber wir schlurften nur noch mit rot geränderten Augen dahin, abgespannt und ein wenig benommen, vielleicht von dem unterirdischen Miasma, das wir auf den vielen Kilometern eingeatmet hatten.
»Und, weiter nach Nordfrankreich, was meint ihr?«, sagte Steve.
Ich merkte, wie mir auf dem glitschigen Steg die Augen zufielen: Ich hielt mich so nah wie möglich an der Wand und konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alle paar Hundert Meter kamen wir an einem kleinen Zuleitungsrohr mit einem Schild vorbei, auf dem der Name der darüberliegenden Straße stand. Moe