Im Untergrund. Will Hunt
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In Paris gehen die Menschen seit langer Zeit in den Untergrund, um sich künstlerisch zu betätigen, Bilder zu malen und Skulpturen und Installationen in entlegenen Grotten zu schaffen. Nicht weit von La Plage befand sich Le Salon du Chateau, wo ein Cataphile die Nachbildung einer normannischen Burg aus dem Stein gehauen und mit Wasserspeier-Skulpturen verziert hatte. Im Salon des Miroirs waren die Wände mit Spiegelscherben bedeckt, es sah aus wie in einer großen Discokugel. Und dann war da noch La Librairie, ein Alkoven mit handgehauenen Regalen, auf denen man Bücher für andere abstellen konnte (leider verschimmelten die Bücher in der feuchten Luft relativ schnell).
Wenn man die Katakomben durchstreift, hat man das Gefühl, in einem irren Krimi voller Falltüren, falscher Wände und geheimer Rutschen gelandet zu sein, in dem jede Öffnung zu neuen, versteckten Räumen mit neuen Überraschungen führt. Am Ende einer Passage stößt man vielleicht auf ein riesiges Hieronymus-Bosch-Wandgemälde, das im Lauf der Jahrzehnte immer weiter vervollständigt worden ist, an einer anderen Stelle auf die lebensgroße Skulptur eines Mannes, der halb aus der Steinwand herauskommt, als trete er gerade aus dem Jenseits hervor; dann geht man einen anderen Gang entlang und kommt an einen Ort, der jegliches Konzept von Realität infrage stellt. 2004 brach eine Streife in den unterirdischen Steinbrüchen durch eine falsche Wand und landete in einem großen, höhlenartigen Raum. Die Cataflics trauten ihren Augen nicht: Sie standen in einem unterirdischen Kino. Cataphiles hatten Sitzplätze für zwanzig Zuschauer aus dem Stein gehauen, es gab eine Leinwand, einen Projektor und mindestens drei Telefonleitungen. Neben dem Vorführraum befanden sich eine Bar, eine Lounge, eine Werkstatt und ein kleines Esszimmer. Als die Polizei drei Tage später zurückkehrte, um das Ganze näher zu untersuchen, waren alle Installationen verschwunden, und der Raum lag leer da – mit Ausnahme einer Nachricht: »Versucht nicht, uns zu finden.«
Auch wenn die Cataphiles nichts davon ahnten – unsere Unterquerung der Stadt wäre ohne sie undenkbar gewesen. Unsere Karte war ursprünglich von den Stammesältesten angefertigt und mit dem Wissen mehrerer Generationen vervollständigt worden: Es wurde angezeigt, welche Gänge niedrig waren und auf dem Bauch durchquert werden mussten, welche unter Wasser standen und welche unsichtbare Stolperfallen hatten, die vorsichtig umgangen werden mussten. (Damit das Tunnelsystem nicht zu einfach zu finden war, hatten die Älteren die Eingänge allerdings nicht auf der Karte verzeichnet.) Im Lauf der Jahre schmuggelten die Cataphiles Bohrmaschinen und Presslufthammer in den Untergrund, um kleine Durchgänge in den Wänden zu schaffen: sogenannte chatières – Katzenklappen –, die sich auf unserem Treck als lebensnotwendige Übergänge erweisen sollten.
Benoit, der nur ein kleines Täschchen mit einer Wasserflasche und einer zweiten Lampe dabeihatte, warf einen fragenden Blick auf unsere dicken Rucksäcke. »Wie lang wollt ihr unten bleiben?«, fragte er.
»Wir durchqueren die Stadt«, antwortete Steve. »Bis an die nördliche Stadtgrenze.«
Benoit starrte Steve einen Augenblick lang an, dann lachte er, bevor er sich umdrehte und im Dunkeln verschwand; vermutlich hielt er es für einen Witz.
Wir wanden, bogen und reckten unsere Körper, als absolvierten wir ein ausgedehntes unterirdisches Stretching. Wir zwängten uns durch lange Schläuche und fielen auf der anderen Seite mit verknoteten Gliedmaßen wieder heraus wie ein neugeborenes Fohlen. Wir ließen uns hinab in Hohlräume von der Größe eines Ballsaals, in denen unsere Stimmen von der Decke hallten. Von den durch die Luftfeuchtigkeit glitschigen Wänden stieg Dampf auf: ein Gefühl, als würde man durch verschlungene Hirnwindungen kriechen. Mehr als zwanzig Meter blickten wir in Kanalschächten nach oben, doch draußen war es zu dunkel, um den Himmel zu sehen. Braune Wurzeln hingen wie kleine, runzlige Kristalllüster von den Decken. Die Hauptgänge waren mit den typischen Pariser Straßenschildern aus blauem Emaille gekennzeichnet, entsprechend der Straßennamen darüber. Das unterirdische Palimpsest wird immer wieder neu überschrieben; Graffiti aus heutigen Sprühdosen überdeckten die Rußflecken der Steinbrucharbeiter aus dem siebzehnten Jahrhundert, unter denen sich wiederum Fossilien prähistorischer, im Kalkstein eingebetteter Meereslebewesen verbergen. Alle paar Minuten kamen wir an seitlich abzweigenden Galerien vorbei, eine kleine Erinnerung daran, wie labyrinthisch unser Weg noch werden sollte.
Die Neulinge Chris, Liz und Jazz bewegten sich wie in einem Traum. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das echt sein soll«, flüsterte Jazz.
Irgendwann leuchtete ich mit meiner Lampe nach oben und entdeckte einen großen schwarzen Spalt in der Decke. Im achtzehnten Jahrhundert waren Stollen eingestürzt: Ganze Häuser, Pferdekutschen und Passanten wurden von der Erde verschluckt, und die Steinbrucharbeiter unter ihnen wurden vom Erdreich verschüttet. Aber heutzutage waren die Tunnel gut gesichert, und wir mussten nicht fürchten, lebendig begraben zu werden – die Katakomben waren der ungefährlichste Abschnitt unserer Reise.
Nadar verfolgte schon lange vor seinen Ausflügen in den Pariser Untergrund das Ziel, die Welt aus ungewohnter Perspektive zu fotografieren. Zuerst tat er das aus der Luft. Zusammen mit seinem Freund Jules Verne gründete Nadar die Société d’encouragement de la navigation aérienne au moyen d’appareils plus lourd que l’air (Gesellschaft zur Förderung der Luftfahrt mit Apparaten, die schwerer sind als Luft) und veranstaltete überall in Europa spektakuläre Heißluftballonfahrten. 1858 bestieg er einen Ballon, flog über Paris und nahm aus der Höhe von achtundsiebzig Metern das erste Luftbild der Welt auf, eine leicht unscharfe, silbrig graue Aufnahme der Stadt. »Wir erlebten die Welt aus der Vogelperspektive, wie sie bisher vom inneren Auge nur unvollkommen wahrgenommen worden war«, schrieb er über seine Aufnahmen aus dem Heißluftballon. »Jetzt besitzen wir nichts weniger als das Abbild der Natur selbst, festgehalten auf der Nassplatte.«
Für sein nächstes Kunststück wollte Nadar die Stadt von unten fotografieren. Es begann mit der Bogenlampe, die er in seinem Atelier zusammengebaut hatte. Es war eine lichtstarke, aber unhandliche Konstruktion: Mithilfe von fünfzig Bunsenelementen entzündete ein elektrischer Funken zwei Kohlenstoffstäbe, die ein weißes Licht aufflammen ließen. Durch diese Lampe wurde es zum ersten Mal möglich, Bilder ohne Sonnenlicht aufzunehmen, ein im jungen Medium der Fotografie noch unerprobtes Konzept. Abends entzündete Nadar die Lampe auf dem Trottoir vor seinem Atelier und zog mit dem Lichtschein die Menschenmassen an. Nadar erklärte, er werde seine Lichtapparatur dazu benutzen, um Bilder mit seiner Kamera einzufangen, die sich allen anderen Fotografen bisher entzogen hatten. »Die unterirdische Welt«, schrieb er, »bot uns ein unendliches Betätigungsfeld, das nicht weniger faszinierend war als das an der Oberfläche. Wir stiegen hinab, um die Geheimnisse der tiefsten, geheimsten Kavernen zu lüften.« In den Beinhäusern – genannt Les Catacombes, in Anlehnung an die berühmten Katakomben in Rom – machte Nadar seine ersten unterirdischen Aufnahmen.
Als wir ungefähr sieben Stunden gegangen waren, führte Steve uns durch eine lange Passage in eine Kammer mit gemauerten Wänden. Wir nahmen unsere Rucksäcke ab und setzten uns auf den Boden. Die Stimmung war bestens, trotz nasser Füße und sensationell verschlammter Klamotten. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis wir die trockenen, kupferfarbenen Gegenstände identifizierten, die rund um uns auf dem Boden lagen.
Jazz nahm einen in die Hand und musterte ihn. »Das ist ein Rippenknochen.«