Marienbrücke. Rolf Schneider
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Als die Sirenen das Signal für die endgültige Entwarnung gaben und die Leute vorsichtig auf die Straße traten, roch es dort nach warmem Staub. Durch die Luft wehten Sandschwaden. Insgesamt waren sieben Häuser im Zentrum von Grotenweddingen zerstört. Eine Sprengbombe hatte sich in den Stadtgarten gebohrt und einen Erdkrater aufgerissen. In Lüttgenweddingen war ein Blindgänger niedergegangen. Die Gesamtzahl der Toten betrug einhundertdreiundzwanzig, und wahrscheinlich wären es weniger gewesen, hätten die Bewohner der getroffenen Häuser, wie es eigentlich die Vorschrift war, ihre Luftschutzräume aufgesucht. Das Grotenweddinger Intelligenzblatt wies später in einem Artikel eigens darauf hin. Es äußerte außerdem seinen Abscheu gegenüber den angloamerikanischen Terrorangriffen und versicherte, dass der Kampfeswille des deutschen Volkes nach wie vor ungebrochen sei.
Die Beerdigungsfirma Witold & Söhne in der Langen Gasse sollte die folgenden Tage viel Arbeit bekommen. Herr Lehmann und seine Pollacken würden von früh bis spät unterwegs sein. Die zerstörten Grundstücke wurden während der nächsten Wochen so weit aufgeräumt, dass der Verkehr in wichtigen Straßen, besonders jenen Richtung Lüttgenweddingen, aber auch jenen Richtung Henselers Motorenwerke, wieder ungehindert fließen konnte.
Einmal musste sich Jürgen Rohwedders Jungzug an solchen Arbeiten beteiligen. Auf dem Platz neben dem Schlachthof ließ der Jungzugführer bei Dienstantritt Schaufeln, Spaten und insgesamt vier Spitzhacken verteilen. Während des anschließenden Abmarschs mit geschulterten Werkzeugen wurde wegen des tragischen Anlasses kein Lied gesungen. Bloß in den hinteren Reihen äffte jemand Drei, vier: bei-hei dir sein! Damit sollte der Befehl zum Liedersingen und überhaupt das Liedersingen beim Marschieren verulkt werden. Jungzugführer Rohwedder reagierte nicht darauf und hatte vielleicht gar nichts gehört.
Sie marschierten bis zur Krummen Gasse zwei, wo sich früher die Grotenweddinger Dienststelle des NS-Winterhilfswerks befunden hatte. Die Pimpfe mussten Schutt vom Gehsteig schaufeln und auf dem Grundstück Vertiefungen planieren. Eine stehen gebliebene Brandmauer wurde mit der Spitzhacke eingerissen. Jungzugführer Rohwedder, Stiel seiner Schippe im Arm, hielt dabei einen Vortrag über die verächtlichen Pläne des Weltjudentums, des russischen Bolschewismus und der angloamerikanischen Plutokraten.
Jacob hatte, während Jürgen Rohwedder redete, im hinteren Teil des Grundstücks, wo er mit dem Spaten zugange war, zwischen Dreck und Schutt etwas Buntes entdeckt. Er legte es vorsichtig frei. Er hatte vor sich den Balg einer Kinderpuppe, mit der sich aber, weil er kopflos war, nicht viel anfangen ließ. Jacob grub weiter und stieß auf eine Höhlung. Hier mochte sich früher ein Keller befunden haben. In der Höhlung unten lagen in einer schwarzen Pfütze zwei metallene Stäbe. Es handelte sich zweifelsfrei um zwei englische Phosphorstabbomben, die sich bloß nicht entzünden konnten, weil sie vollständig bedeckt waren mit Wasser. Neben den Bomben lag etwas Helleres, nämlich ein einzelner Menschenarm, abgerissen, ohne Stoff, die Finger etwas gekrümmt und alles insgesamt eher blaugrau als fleischrosa, weil vermutlich die Verwesung längst eingesetzt hatte. Immerhin ließ sich erkennen, dass die Fingernägel dunkelrot lackiert waren und der Arm demnach zu einer Frau gehört hatte.
Jacob spürte, wie sein Magen verkrampfte. Er musste viel Mühe daransetzen, dass er sich nicht übergab. Beim raschen Fortgehen geschah noch, dass er stolperte und stürzte, dabei schlug er sich außer beiden Handballen das linke Knie blutig. Das war wegen der allgemeinen Infektionsgefahr auf Trümmergrundstücken nun nicht leichtzunehmen. Daheim schrubbte er sich mit Seife und Wurzelbürste ausführlich seine Wunden, besonders die am Knie, und der Schmerz wurde dabei so stark, dass er trotz der zusammengebissenen Zähne wimmern musste, was aber niemand hörte, da Robert zur Arbeit gegangen war und Jacob sich in der Wohnung allein befand. Er tat sich Jod aufs Knie und verklebte es mit Leukoplast aus dem Sanitätskasten, der im Badezimmer stand. Das Bild des Frauenarms mit den blaugrün gekrümmten Fingern ging nicht fort. Fliegeralarm gab es diese Nacht übrigens keinen, trotz des inzwischen vollkommen aufgeklarten Himmels.
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Das beherrschende Thema in den Radionachrichten blieben die Soldatenjahre des amtierenden österreichischen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim. Soeben hatte eine internationale Historikerkommission, berufen, die Handlungsweise des Staatsoberhauptes zu untersuchen, einen abschließenden Bericht übergeben. Man wisse von keinem Fall, in welchem Waldheim gegen die Anordnung eines von ihm zweifellos erkannten Unrechts Einspruch erhoben oder etwelche Gegenmaßnahmen getroffen hätte. Er sei im Gegenteil wiederholt an rechtswidrigen Vorgängen beteiligt gewesen und habe deren Vollzug erleichtert.
Auf dem Stephansplatz, direkt vor dem romanischen Hauptportal der gotischen Kathedrale, begab sich an einem trüben Sonntagnachmittag eine Versammlung aus Anlass der Vergangenheit und Gegenwart von Dr. Kurt Waldheim.
Zwei bekannte österreichische Künstler, ein Bildhauer und ein Schriftsteller, hatten ein hölzernes Pferd aufgestellt, mit dem sie das österreichische Staatsoberhaupt verhöhnten. Die Tiernachbildung sollte nicht so sehr auf das odysseische Werk vor Troja anspielen als vielmehr auf den Umstand, dass Kurt Waldheim seine frühere Zugehörigkeit zur Reiter-SA erst verschwiegen und dann mit einer etwas sonderbaren Erklärung versehen hatte, was einen anderen Politiker zu der Bemerkung veranlasste: Also, ich begreif so viel, nicht der Herr Doktor Waldheim war in der SA, sondern bloß sein Pferd.
Der Politiker, der diesen Ausspruch tat, hieß Fred Sinowatz, bis vor kurzem österreichischer Bundeskanzler. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, er habe dem Jüdischen Weltkongress in New York und dessen Vorsitzendem Bronfman das Material gegen Kurt Waldheim zukommen lassen, um dadurch den Sieg des Präsidentschaftskandidaten seiner eigenen Partei, der sozialistischen, zu ermöglichen. Durch die Äußerungen von Bronfman hatte die internationale Diskussion um Kurt Waldheim überhaupt erst eingesetzt.
Kersting erschien spät. Die Veranstaltung, angekündigt durch Handzettel, hatte um zwei Uhr nachmittags anfangen sollen. Als Kersting eintraf, war der Platz gänzlich überfüllt. Kersting hörte die Rede einer männlichen Stimme durchs Megafon. Er konnte den Sprecher nicht erkennen. Der Sprecher sagte, Kurt Waldheim möge um der Republik willen zurücktreten von seinem Amt, da es nicht angehe, einen höchsten Staatsrepräsentanten zu haben, der erweislich nicht die Wahrheit sage.
Die Worte erzeugten bei den Zuhörern Äußerungen von Unmut und Beifall. Anhänger wie Gegner des Bundespräsidenten schienen unter den Versammelten zu fast gleichen Teilen vertreten. Während durchs Megafon weiter die Stimme zu hören war, bildeten sich kleine Gruppen, von denen das Gehörte und ohnehin Gewusste wieder und wieder beredet wurde. Kersting sah gerötete Gesichter, erhobene Hände, geballte Hände, geöffnete Münder, man redete, ohne dem Megafon zuzuhören, ohne einander zuzuhören, ohne es zu können. Die Sprechenden wechselten die Gruppen, nicht die Haltungen. Es entstand eine Orgie der diskursiven Besessenheit. Dazwischen bewegten sich Leute mit Fotoapparaten und Fernsehkameras. Kersting fand es alles sehr aufregend, auch da er sich nicht erinnern konnte, jemals so was erlebt zu haben.
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Die Domäne Behncke befand sich im Besitz der freiherrlichen Familie Birstein, deren Angehörige immer ordentliche Agrarier gewesen waren und seltener Offiziere. Ein Carl Johann Freiherr von Birstein sollte eingangs des neunzehnten Jahrhunderts dem nach Russland durchreisenden Kaiser Napoleon seinerseits entgegengeritten sein, mit kleinem Gefolge, bis an die Grenze von Behncke, um dort den neureichen Herrscher der Franzosen zu begrüßen mit den selbstbewussten Worten: Alors, deux seigneurs se rencontrent. Diese Geschichte war berühmt und musste über lange Jahre hin sogar gelernt werden im Heimatkundeunterricht der Schulen