Marienbrücke. Rolf Schneider
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Jacob fand, dass Kristina Söderbaum doof war und ihr Wassertod völlig in Ordnung. Es gab viele ekelhafte Leute, die überhaupt keine Juden waren, zum Beispiel Jungzugführer Rohwedder. Jacob konnte sich unter Juden nicht viel vorstellen. Er hatte noch nie jemanden getroffen, von dem er wusste, dass er Jude war.
Zwei Tage später wollte Geesche ihren Lohn für den Besuch von Jud Süß. Jacob musste sie in ihrem Schuppen besuchen. Geesche grinste. Schmatzend aß sie von einer Nougatstange, an ihren Mundwinkeln klebte hellbraune Süßigkeit. Sie stellte sich vor Jacob und legte ihm einen Arm um den Hals, zugleich griff sie mit der anderen Hand in die rechte Beinöffnung seiner kurzen Hose. Jacob verkrampfte sich. Geesche sagte: Hab dich man nich. Dazu versprühte sie süße Speicheltröpfchen, da sie immer noch Nougat kaute. Sie sagte dann, wenn sich Jacob jetzt weigere, also die versprochene Belohnung nicht liefere, sei es für alle Zeiten vorbei mit Besuchen im Corso durch die Hintertür. Dann zog sie ihre Hand aus Jacobs Hosenbein heraus und packte Jacobs Linke, die sie unter ihr Kleid schob und hinter den Gummizug ihres Schlüpfers bis zwischen ihre Beine. Jacob fühlte schlaffe Haut, eine Vertiefung und etwas Feuchtigkeit. Er wusste nicht, was mit seiner Hand tun. Mach dich schon, keuchte Geesche. Dazu presste sie ihre Schenkel zusammen und rutschte auf Jacobs Hand hin und her. Jacob wollte die Hand fortnehmen und unterließ es. Mach dich was, keuchte Geesche und schloss die Augen. Wortlos keuchte sie weiter, bis vor ihren halboffenen Lippen hellbrauner Nougatspeichel zu Schaum wurde. Jacob fürchtete, Geesche könne auch noch verlangen, dass er seinen Mund auf ihren legte, er drehte den Kopf beiseite und entdeckte, dass hinter dem Schuppenfenster ein Kopf war. Ytsche Lehmann sah Jacob und Geesche zu und war hochrot im Gesicht vor Neid.
15
In einem Ausstellungskatalog, über dem er im Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek saß, fand Kersting eine Fotoaufnahme von Josef Hoffmann. Das Profilbildnis eines älteren Menschen, mit Zwicker, über den kahlen Schädel graue Haarsträhnen gelegt, der Kopf schob sich herrisch nach vorn. Dass er einmal unter Gedächtnisschwäche und schulischem Versagen gelitten hatte, war dem offenkundigen Selbstbewusstsein dieses Mannes nicht anzumerken.
Kersting verglich die Aufnahme mit anderen Porträts. Auf einer En-face-Aufnahme von 1903 trug Hoffmann einen gezwirbelten Schnurrbart. Eine von der Zeitschrift Ver sacrum gedruckte Karikatur zeigte, dass er einen Kopf größer war als sein gleichfalls abgebildeter Gefährte Koloman Moser. Er sei, las Kersting in einem Begleittext, von krankhafter Berührungsscheu gewesen gegenüber Menschen, deren Hände ihm missfielen.
Man sieht, dass es unsere erste Pflicht wäre, mit ehernen Zungen gegen alles Halbe und Erlogene zu kämpfen, gegen die Affenbrut zu wettern und ein heiliges Feuer der Reinigung zu entzünden, hellauflodernd bis zum Himmel.
Ein Hoffmann-Satz. Kersting las ihn in einem Text von 1901, der Einfache Möbel hieß. Heilige Feuer waren eine schreckliche Metapher, und wie sich eine eherne Zunge zum Kampfinstrument eignen sollte, entzog sich aller Vorstellung. Josef Hoffmann war ein miserabler Autor. Muss jemand ein guter Autor sein, wenn er ein außergewöhnlicher Architekt ist? Dieser Satz stand in einem Essay von Moritz Ginsberg, einem laut Autorenvermerk an der Universität Chicago lehrenden Kunsthistoriker, der manchmal auch als Morris E. Ginsberg auftrat.
Eine Arbeit Josef Hoffmanns war das Grabencafé. Lange Zeit eine beliebte Adresse, existierte es nicht mehr, bloß die unmittelbar daneben gelegene Konfiserie, auch eine Hoffmann-Arbeit, gab es noch. Kersting stand vor dem Schaufenster. In den Auslagen sah er bunte Schokoladenwaren. Im Halbdunkel dahinter war die Verkaufstheke. Eine Frau im Nerzmantel redete mit einer devot lächelnden Verkäuferin. Zwei ständig nickende Frauenköpfe. Die Frau im Nerzmantel gestikulierte. An ihren Fingern blitzten Brillanten.
Das Österreichische Museum für angewandte Kunst befand sich an der Ringstraße, neben dem Stadtpark mit seinem pompösen Johann-Strauß-Denkmal, dessen Kopie Kersting, am ersten Tag seines Wien-Aufenthalts und mit Blick von der Marienbrücke, auf dem Deck eines Vergnügungsdampfers gesehen hatte. Das Gebäude des Museums war verbunden mit dem der Hochschule für angewandte Kunst. Josef Hoffmann hatte dort ab 1912 ein eigenes Atelier besessen. Das Museum zeigte eine ständige Ausstellung mit Produkten der Wiener Werkstätte: Vasen, Möbelstücke, Buchbinderisches, Schmuck, Geschirr, Silberbestecke, von Moser, Olbrich, Hoffmann, Löffler, Powolny, Prutscher. Aus der Nähe besehen wurden Unterschiede, auch Schwankungen auffällig. Bei Hoffmann gab es neben Arbeiten von äußerster Prägnanz ebenso Dinge mit Linienführungen von süßer Beliebigkeit.
War das erstaunlich? Damals lebten sie alle in einer von Marasmen völlig befallenen Welt. Wien war zu Tode ermattet. Leben geschah bloß noch irgendwie, durch Routine, Müdigkeit, Achselzucken, Schlamperei, durch patriotische Beschwörungen, durch den Dunst der Kaffeehäuser und gelegentlich durch polizeilichen Zugriff. Kersting fühlte sich an die Sowjetunion erinnert. Er verbot es sich, über diese Parallele weiter nachzudenken.
Die Hohe Warte, im frühen 19. Jahrhundert ein Ausflugslokal, lag auf einer Anhöhe über dem westlichen Donauufer, mit Blick auf den Wienerwald. Hoffmann hatte wiederholt hier gebaut. Er hatte drei Villen entworfen für die Steinfeldgasse, zehn Jahre später baute er gleich nebenan die große Villa für den Bauunternehmer Eduard Ast und entwarf acht Häuser für eine geplante Künstlerkolonie am Kaasgraben. Kersting fuhr mit der Bahn bis zur Station Heiligenstadt. Er sah, dass es bei den meisten Hoffmann-Bauten die ursprünglichen Fassungen nicht mehr gab. Schneeregen fiel. Er hatte keinen Schirm bei sich. Bald war er durchnässt und fröstelte. Er verfertigte Fotoaufnahmen von den Kaasgrabenhäusern und bemerkte, dass sie sich von anderen Architekturen der Jahrhundertwende kaum unterschieden. Noch am ehesten unverändert zeigte sich die Villa von Eduard Ast. Als sich Kersting mit seinem Fotoapparat dem Gebäude näherte, schlug ein Hund an.
Der Schneeregen fiel unentwegt. Das Wasser lief ihm aus den Haaren über die Stirn und den Nacken. Er ging hastig zurück zur Bahnstation und kam dabei an einem Straßenschild vorbei mit dem Namen des Kardinals Innitzer. Das war jener Kirchenfürst, der 1938 den deutschen Einmarsch in Wien willkommen geheißen hatte, mit zum Hitlergruß erhobenem Arm.
16
Jacob war ein magerer Junge von elf Jahren, der sich nicht sehr gerade hielt. Er ließ sich sein Haar wachsen, über die als ideal vorgegebene Streichholzlänge hinaus. Die Strähnen rutschten ihm übers Ohr. Beim Schreiben, wenn er den Kopf senkte, fielen sie ihm in die Stirn und bis über die Augen. Er warf dann in einer Bewegung, die irgendwie aufsässig wirkte, den Kopf zurück und mit ihm die Strähnen.
Ytsche Lehmann trug seine Haare weiterhin kurz. Er hatte sich entschlossen, seine gesamte Zuneigung dem deutschen Führer Adolf Hitler zu schenken. Jacob hätte vielleicht gut daran getan, völlig unauffällig zu bleiben, wegen Robert, der zwar nach drei Tagen aus dem Gewahrsam der Geheimen Staatspolizei von Grotenweddingen wieder freigekommen war, deren allgemeiner Aufmerksamkeit aber auch weiterhin unterstellt blieb. Dies äußerte sich zum Beispiel darin, dass in unregelmäßigen Abständen, meistens an Sonntagvormittagen, ein älterer Beamter in Zivil an Roberts Wohnungstür klingelte und Robert zu sprechen wünschte.