Marienbrücke. Rolf Schneider
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Dietrich Lehmann hatte sich eben den Zylinder aufgesetzt und war mit dem Wagen und einem Sarg, Eiche dunkel, zum städtischen Krankenhaus gefahren. Die beiden Pollacken hatte er wie üblich mitgenommen. Die Lehmanns beschäftigten eine Wirtschafterin, von allen bloß Fräulein gerufen, also ohne Namenszusatz, eine weißhaarige Frau, die das Essen kochte, die Böden säuberte und das Geflügel versorgte. Diesen Nachmittag, hörte Jacob von Ytsche, lag Fräulein wegen Fieber und schwerer Erkältung im Bett. Jacob zeichnete für Ytsche mit Zirkel und Lineal ein rechtwinkeliges Dreieck nach vorgegebenen Seitenlängen.
Als er den Kopf hob, erkannte er durchs offene Fenster, wie Ytsches Mutter Marianne Lehmann hochhackig aus dem Büro heraustrat auf den Wirtschaftshof. Sie hielt eine weiße Emailschüssel im Arm, nahm daraus und warf Gerstenkörner unter die Hühner. Dann tat sie, leere Schüssel in der Hand, noch einen prüfenden Blick in die Werkstatt, wo Männe Festerling allein war.
Sie fand, was sie vermutlich erwartet hatte, und auch Jacob sah es jetzt, von seinem Platz hinter Ytsches Tisch und Fenster. Männe Festerling hatte eine Schnapsflasche an seinem schiefen Mund. Jacob hörte Marianne Lehmann schreien, dass Männe Festerling ein Lüdrian sei und sie ihn endgültig hinausschmeißen werde. Das hatte sie schon oft gerufen. Es war angesichts der allgemeinen Beschäftigungslage nicht ernst zu nehmen. Männe Festerling hätte seine Schnapsflasche einfach absetzen und zwischen die Hobelspäne in die Werkstattecke stellen sollen, wie sonst auch.
Männe Festerling tat das aber nicht. Jacob sah, wie Männe Festerling immer bloß weiter trank. Jacob hörte Marianne Lehmann rufen, dass Männe Festerling nichts wie eine Krücke wäre. Hässlich und schief. Das Saufen würde ihn noch hässlicher machen. Aus purem Mitleid würde Männe Festerling geduldet bei Witold & Söhne. Das sollte aber jetzt ein Ende haben.
Mit greller, in der Tonlage höher sich schraubender Stimme schrie Marianne Lehmann, und Jacob sah, wie dazu hohe Hacken das Pflaster des Wirtschaftshofes traten. Die Schüssel hielt Marianne Lehmann weiter in der Hand. Unter den Achseln der hellgrün schillernden Kunstseidenbluse, sah Jacob, standen schwarze Schweißflecke.
Männe Festerling sah es vielleicht auch. Männe Festerling setzte die inzwischen leergetrunkene Schnapsflasche ab. Er öffnete die Finger, dass die Flasche freikam und zwischen die Hobelspäne fiel. Sein Gesicht senkte er auch jetzt noch kein bisschen. Aus schiefem Mund würgte er Laute heraus, die am ehesten als Marianne zu verstehen waren, Vorname von Frau Lehmann.
Da war nun immer noch die Person mit schwarzem Haar, weißen Zähnen und goldnem Ohrring hinterm offenen Fenster des Frauentrakts. Ihre Zigarette hatte sie ausgeraucht. Mit höchstem Interesse schien sie zu beobachten, was unten im Wirtschaftshof geschah. Die Person gab ihr Missfallen an Marianne Lehmanns Handlungsweise, sie gab ihr Mitgefühl mit Männe Festerlings allgemeinem Schicksal in rohen Worten kund.
Männe Festerling sprang plötzlich Marianne Lehmann an. Er tat dies in der Art, wie große Wachhunde tun, und hatte tatsächlich in seinem Munde ein hündisches Geräusch. Jacob legte den Zirkel beiseite. Auch Ytsche Lehmann beugte sich vor. Die Frauensperson hinterm geöffneten Fenster des Untersuchungsgefängnisses klatschte in die Hände und schrie Beifall.
Marianne Lehmann hatte mit alledem nicht gerechnet. Sie ließ die leere Futterschüssel fallen und bewegte sich sonst nicht. Männe Festerling umschlang mit seinem rechten Arm Marianne Lehmanns Nacken und riss mit der linken Hand, die seine kräftige war, die Kunstseidenbluse herunter, dass der Stoff schrie. Unter der Bluse trug Marianne Lehmann weiße Unterwäsche.
Noch immer stand sie bewegungslos. Vielleicht war sie tief beeindruckt von Männe Festerlings Aufsässigkeit. Vielleicht genoss sie sogar, wie er stark war, ihre Bluse zerriss und als nächstes ihre weiße Unterwäsche zerreißen würde. Was Männe Festerling wollte, war wohl offensichtlich, jedenfalls für Marianne Lehmann, und vielleicht hätte sie, verheiratet mit einem Mann, der bei Herzanfällen immer blaurot anlief, es sogar geduldet, wenn nicht heller Nachmittag gewesen wäre, wenn nicht Ytsche, ihr Sohn, und dessen Schulkamerad Jacob hinterm offenen Fenster gesessen hätten und zugesehen, wenn nicht die ordinäre Frauensperson aus dem Untersuchungsgefängnis die Geschehnisse verfolgt hätte, wobei sie auch immer noch Männe Festerling anfeuerte mit lauten Worten.
Marianne Lehmann stemmte sich gegen Männe Festerlings rechten Arm. Sie lief dunkelrot an im Gesicht vor vieler Anstrengung. Sie benutzte den schließlich entstehenden Abstand, dass sie Männe Festerling mit dem hochhackigen Schuh in die Leiste trat. Männe Festerling grunzte schmerzlich, ließ die Arme sinken und torkelte zurück in die Werkstatt. Marianne Lehmann, Fetzen ihrer Bluse in der Hand, rannte ins Haus. Die leere Futterschüssel blieb auf dem Hofpflaster. Die Weibsperson im Frauengefängnis schickte Marianne Lehmann außer Gelächter noch Schmähungen hinterdrein.
Als Nächstes verschloss Männe Festerling das Werkstatttor. Jacob konnte hören, wie Marianne Lehmann im Nebenzimmer das Telefon betätigte, um nach der Polizei zu rufen. Eher als ein Gendarm erschien Dietrich Lehmann mit Zylinder, schwarzem Lieferwagen und zwei Pollacken. Marianne Lehmann hatte sich eine andere Bluse übergezogen und ging wieder hinaus auf den Hof. Jacob konnte sehen, wie Marianne Lehmann offenbar Bericht gab, wozu sie weinerlich ihre Schultern zucken ließ. An eine Vollendung des rechtwinkeligen Dreiecks war nicht mehr zu denken. Auch Ytsche Lehmann zeigte sich an den Ereignissen auf dem Hof deutlich interessiert.
Jacob sah, wie Dietrich Lehmann erst mal den Zylinder absetzte und sich mit dem Handrücken über die Stirnglatze strich. Dietrich Lehmann schüttelte ungläubig den Kopf. Er ging zwischen den pickenden Hühnern schräg über den Hof bis zum Werkstatttor. Er versuchte es zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Das Tor war von innen verriegelt. Anzunehmen, dass Männe Festerling es zusätzlich blockiert hatte, mit Holzböcken oder Fichtenbrettern.
Männe, mach dich auf! rief Herr Lehmann, zweimal, und als nichts erfolgte, rief er: Nu mach dich man! Auch das bewirkte nichts. Herr Lehmann musste schließlich seine zwei Pollacken zu Hilfe rufen, und selbst die hatten um die zehn Minuten zu tun.
Längst hatte es auch Jacob und Ytsche Lehmann nicht mehr gehalten an ihrem Tisch in Ytsche Lehmanns Zimmer. Bloß erst zur Hälfte vollendet blieb das rechtwinkelige Dreieck auf rosigem Millimeterpapier. Spätestens als die zwei Pollacken eine Brechstange heranschafften, unter Dietrich Lehmanns sachkundiger Anleitung, liefen Jacob und Ytsche Lehmann quer über den Wirtschaftshof, dass die Hühner auseinanderstoben. Weder Dietrich Lehmann noch Marianne Lehmann noch die beiden Pollacken achteten auf die zwei Jungen. Die Pollacken waren vollauf damit beschäftigt, ihre Brechstange anzusetzen, um sich dann sofort mit ihrem Körpergewicht dagegen zu werfen, unter Dietrich Lehmanns Kommando.
Die Tür brach auf. Holz splitterte, Metall sprang auf Stein. Fichtenbretter, von innen gegen die Klinke geklemmt, fielen krachend heraus, auf das Pflaster und zwischen die Hühner. Dietrich Lehmann, Marianne Lehmann und die beiden Pollacken traten in die Werkstatt. Ytsche Lehmann und Jacob waren ihnen hinterdrein.
Jacob konnte nur einen Blick tun, dann wurde ihm gleich übel. Er musste sich umdrehen und die Werkstatt verlassen. Ytsche Lehmann hielt bedeutend länger aus. Was er sehen konnte, kaum verdeckt durch die Beine seiner Eltern und die der beiden Pollacken, war aber dies:
Männe Festerling lag im Unterteil eines Sargs aus ungebeizter Fichte. Neben seiner rechten Hüfte lag die leere Schnapsflasche. Mit einem Rasiermesser hatte er sich die Gurgel durchgeschnitten. Es musste als sonderbar gelten, dass Männe Festerling ein Rasiermesser bei sich führte, da er so selten seine Bartstoppeln abnahm.
Die Hand mit dem Messer lag ihm mitten auf der Brust. Der Kopf mit der halb durchgeschnittenen