Marienbrücke. Rolf Schneider
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Es gab eine in drei Windungen zum Stadtinneren laufende Straße. Rechts war die Kleingartenanlage Frohe Zukunft, mit Drahtzaun, Sonnenblumen und schwarzen Holzlauben, links fiel schäumend von einer Staustufe der Nöschenbach. Wo die Straße auf einer Brücke übers Wasser führte, befand sich rechts der Schlachthof, wo zweimal in der Woche die Schweine schrien, ehe ihnen der tödliche Bolzen ins Gehirn fuhr. Eine Bahnschranke senkte sich und schloss allen übrigen Verkehr aus, wenn ein Zug mit Personen nach Westerode fuhr oder von dorther kam.
Dies war Jacobs täglicher Weg. Ecke Grünstraße/Pfarrweg, wo er zweimal am Tag vorbeikam, stand das Haus Erika, jetzt Kriegslazarett, im offenen Fenster saßen junge Männer, um ihre bandagierten Köpfe, ihre Bein- und Armstümpfe ins Licht zu halten, wenn Sonne schien. Vom Sägewerk herüber kam Geruch von nassem Holz. In Findeisens Kohlenhandlung hob ein Fremdarbeiter Säcke voll Braunkohlenbriketts auf die Waage.
Der Große Markt war in der Form rechteckig, in seiner Mitte stand ein Metallbrunnen mit farbig lackierten Patrizierwappen und mehreren Wasserspeiern, denen das Wasser fortblieb. Kinder warfen Blechschachteln und Frühstückspapier in das tote Becken. Das Rathaus hatte kunsthistorische Berühmtheit, denn es besaß Freitreppe und Spitztürme, Fachwerk und Holzschnitzfiguren und war ein Werk der gotischen Baumeister Thomas Hagenow Vater und Sohn. Am Großen Markt begann der Suderweg, an dessen Ende, links neben dem Sudertor, hinter einer Straßenbiegung das Gymnasium stand. Hier wurde Jacob Schüler ab dem Sommer 1942.
Daneben gab es die Verpflichtung, dass Jacob ein Pimpf war bei Adolf Hitlers Jungvolk. Zweimal die Woche sollte er sich einfinden an dem vorgeschriebenen Treffpunkt, das war der dreckige Platz neben dem Schlachthofgebäude. Der Wimpel mit dem Hakenkreuz im Rhombus hing an seiner Stange schlaff herab. Lastwagen voll stinkender Kühe fuhren herbei und durchs Schlachthoftor. Drinnen brüllte schmerzlich vieles Vieh. Jacob vermied, so oft das möglich war, bei dieser Art Dienst zu erscheinen. Robert schrieb ihm die dazu nötigen Entschuldigungszettel. Manchmal schien in Grotenweddingen aller Krieg sehr weit fort.
Robert war unabkömmlich in Henselers Motorenfabrik. Es gab niemanden mehr wie zum Beispiel Gerda in Chemnitz. Jacob gewöhnte sich an die Abwesenheit von Frauen, wie an das Leben in Grotenweddingen, wie an die Leute und die Sprache von Grotenweddingen. Eine Hakenkreuzfahne besaß Robert immer noch nicht, konnte sie also nicht vors Fenster setzen und hatte, wenn ihn der Blockwart darüber ins Gespräch zog, immer noch flapsige Wörter im Mund. Häufig gab es jetzt Fliegeralarm. Walter Henseler hatte seine Wohnblöcke gleich mit Luftschutzkellern errichten lassen, die Decken aus Stahlbeton, eiserne Klappen vor Ausgangsschächten und Fenstern. Wenn Sirenen heulten und die Hausbewohner mit ihren vorsorglich gepackten Koffern in die Keller hasteten, stand Robert, sofern er überhaupt zu Hause war, lieber draußen im Freien und kümmerte sich überhaupt nicht darum, dass er damit gegen Verbote verstieß.
9
Kersting war an Josef Hoffmann über Umwege gelangt. Eigentlich hatte er über den belgischen Jugendstilarchitekten Henry van de Velde arbeiten wollen, er hatte einiges an Zeit und Mühe auf die Sache verwendet, zweihundertzehn von geplanten vierhundert Seiten waren bereits geschrieben, als ein DDR-Wissenschaftsverlag eine ausführliche van-de-Velde-Monografie druckte. Kersting kannte den Autor. Jörg M. Schliephake war Dozent an der Kunstakademie Berlin-Weißensee, ein langer Menschen mit breiten Schultern, dröhnender Stimme und einem auffällig großen Adamsapfel. Kersting mochte ihn nicht, und er mochte Schliephakes Texte nicht.
Das lag wohl auch daran, dass sich Schliephake als Widerpart von Creyenveldt sah, dem Vater von Kerstings Frau. Schliephake verdächtigte Creyenveldt des ideologischen Revisionismus, was er freilich so direkt nicht aussprach, vielmehr hinter Andeutungen, Mutmaßungen und rhetorischen Fragen vorsichtig verbarg. Creyenveldt galt als Autorität, immer noch, allein seiner Biografie wegen, doch bot er auch Angriffsflächen, da ihm die in der DDR erzeugte Bildkunst, wie er gelegentlich äußerte, überwiegend missfiel.
Dass Kersting über van de Velde arbeitete, war weithin bekannt. Kersting hatte Aufsätze, Radiobeiträge und einen Fernsehfilm zum Thema publiziert. Schliephakes Buch kam völlig überraschend, und Rezensionen rühmten es alsbald als Standardwerk. Das Leipziger Verlagshaus, mit dem Kersting in Verhandlungen stand, kündigte den Vertrag und überwies ein Abstandshonorar.
Dies alles geschah, als sich Kersting auch sonst in allerlei Schwierigkeiten befand. Er hatte ein Verhältnis mit Gwendolyn begonnen, einer aufstrebenden Künstlerin, sie malte Bilder in der naiven Manier des Zöllners Rousseau und der Grandma Moses. Aus Neugier hatte er eine ihrer Verkaufsausstellungen besucht, in einer privaten Galerie, die aus drei großen Zimmern einer etwas muffigen Berliner Altbauwohnung am Prenzlauer Berg bestand. Der Galeriebesitzer lebte von Käufern, die reiche Ärzte und ausländische Diplomaten waren. Der Klatsch unterstellte ihm ein intimes Verhältnis mit der Staatssicherheitsbehörde.
Gwendolyns Bilder gefielen Kersting. Sie erinnerten ihn an frühere Arbeiten seines Vaters. Gwendolyn selbst war eine fleischige Person mit großen blauen Augen, dichten rotbraunen Locken und einem Gesicht voller Sommersprossen. Vor unstillbarem Hunger nach Zärtlichkeit schien sie zu beben. Sie hatte eine angenehm heisere Stimme und einen reizenden S-Fehler. Ihre Bewegungen waren von somnambuler Trägheit.
Kersting besuchte sie regelmäßig in ihrem Atelier. Er verbrachte Wochenenden mit ihr in abgelegenen Dorfgasthöfen der Mark Brandenburg. Einmal fuhr er mit ihr, da sie es so wünschte, an die herbstliche Küste der Ostsee. Drei Tage lang wohnten sie in einem Haus, das Creyenveldt gehörte und für das Kersting einen Schlüssel besaß. In der Nachbarschaft lebte eine neurotische junge Frau, die Kersting seit Jahren kannte.
Hinterher sagte er sich, es sei mehr als leichtsinnig gewesen, sich ausgerechnet hier aufzuhalten. Kerstings Frau Sonja erfuhr von Kerstings Besuch, und sie erfuhr von Kerstings Begleitung. Es kam zu langen peinigenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden Eheleuten, bis Kersting entnervt die gemeinsame Wohnung verließ. Er suchte sich zwei Zimmer in einem alten Mietshaus hinter dem Oranienburger Tor. Er zog dort ein, mit drei Koffern, ein paar hundert Büchern und einem unfertigen Manuskript über den belgischen Jugendstilarchitekten Henry Clemens van de Velde.
Die Arbeiten daran kamen gut voran. Gwendolyn besuchte ihn, und er besuchte Gwendolyn. Mit Sonja telefonierte er, wenn es Probleme mit David gab, ihrem Sohn, dem die elterliche Trennung offenbar nicht bekam.
Irgendwann hatte Kerstings Verhältnis mit Gwendolyn seinen Höhepunkt überschritten. Gwendolyn interessierte sich inständig für Kerstings Arbeit über Henry van der Velde, obschon sie von belgischem oder europäischem Jugendstil nur wenig wusste und gar nichts verstand. Manchmal warf er ihr Heuchelei vor. Daraufhin brach sie in ein heiseres Schluchzen aus. Ihr weiches, nach erhitztem Eau de Cologne duftendes Fleisch begann ihn zu langweilen. Er überlegte, ob er die Sache mit Gwendolyn beenden und zu Sonja zurückkehren solle.
Da erfuhr er, dass Sonja ihrerseits eine Affäre hatte: mit Gleb Grigorjewitsch Surkow, einem Angehörigen der sowjetischen Botschaft Unter den Linden. Sonja hatte Surkow bei einem der Empfänge zum Jahrestag der Oktoberrevolution kennengelernt. Zu dieser Veranstaltung wurde sie regelmäßig eingeladen, gemeinsam mit Creyenveldt, ihrem Vater, und Kersting, ihrem Mann.
Surkow war ein drahtiger junger Mensch mit rosigem Bubengesicht unter einem schlohweißen Haarschopf. Sonjas Affäre mit ihm lief länger als Kerstings Affäre mit Gwendolyn, was Kersting erst bekannt wurde, als er aus der gemeinsamen Wohnung schon ausgezogen war. Die Mitteilung darüber, sie kam übrigens von Sonja, am Telefon, erbitterte ihn.
Bald darauf zog Gwendolyn es vor, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Dass sie verheiratet war, hatte Kersting erst