Marienbrücke. Rolf Schneider
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Zwischendurch zwang er sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Robert niemals wiederkäme, weil Robert vielleicht tot war. Er dachte Wörter wie Internat und Waisenhaus. Er merkte nicht, wie ihm dabei die Tränen übers Gesicht liefen. Unterdessen war Mittag geworden, er holte sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr zu seinem Schulfreund Ytsche Lehmann. Die Angst machte, zusammen mit der Anstrengung, dass ihm Kehle und Gaumen dröge wurden, auf der Zunge hatte er einen Geschmack, als lecke er Staub.
In der Langen Gasse stieg er von seinem Rad. Fräulein stand in der Küche, nickte ihm mürrisch zu und hantierte dann wieder an ihrem Küchenherd, auf dem mittäglicher Eintopf brodelte. Jacob fing plötzlich zu weinen an, Marianne Lehmann musste zahlreiche zerhackte Wörter aus ihm herausfragen und nahm ihn zum Trösten in die Arme, was er sich fast ohne Widerstreben gefallen ließ. Er fühlte sich bedrängt von sehr viel weichem Fleisch, das nach Schweiß und Lavendel roch.
Anschließend sorgte Marianne Lehmann dafür, dass er von den Birnen mit Räucherfleisch und Kartoffeln aß, die Fräulein in reichlicher Menge aufgetragen hatte. Nu iss dich man, sagte sie, und Jacob aß und wurde tatsächlich ruhiger. Danach stieg er wieder auf sein Fahrrad. Als er heimkam, traf er, womit er fast nicht mehr gerechnet hatte, Robert im Badezimmer. Robert rasierte sich einen zwei Tage alten Bart und hatte entzündete Augen. Er lachte etwas, als er Jacob sah. Er wischte sich Seifenschaum vom Gesicht und sagte, es sei alles in Ordnung.
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Die meisten der in Ost-Berlin verhafteten jungen Leute seien wieder frei und ausgereist nach Westdeutschland. Ein paar von ihnen weigerten sich allerdings, den dazu erforderlichen Ausreiseantrag zu stellen. Mitteilungen solcher Art, als Schlagzeile von Zeitungen, die in Kiosken der Inneren Stadt auslagen, erreichten Kersting in einem überwiegend mit Empfindungen der Taubheit und der Euphorie besetzten Zustand.
Seine augenblickliche Erlebniswelt konnte er sich mit den Namen und Verläufen von Straßen im achten Wiener Gemeindebezirk umreißen, der den Namen Josefstadt trug und westlich der Ringstraße lag. Das Studentenhotel, in dem Kersting wohnte, stand an der Pfeilgasse. Sie durchquerte die Josefstadt in ihrer fast gesamten Ausdehnung. Als bauliche Sonderbarkeit gab es eine mehr als mannshohe Mauer, die zwischen Lerchen- und Tigergasse die Pfeilgasse gleichsam auseinanderschnitt und dadurch unpassierbar machte. Kersting musste an Berlin denken, wo es Straßen solcher Art seit dem Jahre 1961 in beträchtlicher Anzahl gab. In der Pfeilgasse war die Mauer eine weitgehend zweckfreie Einrichtung oder bloß gemacht, dass Kersting die Stadt seines Herkommens keinesfalls vergaß.
Er konnte eine Treppe benutzen, um aus seiner Wohnung ins Erdgeschoss zu gelangen, oder den Lift. Die Treppe begann unmittelbar neben seiner Wohnungstür. Die Stufen bestanden aus grauweißem Kunststein. Auf dem Wege zum Lift ging er an der stets offen stehenden Tür einer Teeküche vorbei. Hier begegnete er immer wieder dem jungen Mann mit den etwas ungelenken Bewegungen. Sie nickten einander zu. Beim dritten Treffen grüßte der andere Kersting hörbar mit dessen Namen. Kersting wollte stehen bleiben, sich umwenden und fragen, wieso sein Name bekannt sei. Dann erinnerte er sich, dass seit dem Datum seiner Anreise an seiner Wohnungstür seine Visitenkarte klebte. Er sah, wie der andere durch eine Tür ging, die sich nur zwei Türen entfernt von der seinen befand.
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Eines der beiden Lichtspieltheater von Grotenweddingen trug den Namen Corso. Jacob war damals völlig versessen auf Kino und Filme. Er besuchte das Corso nach fast jedem Programmwechsel, das war ein- oder zweimal die Woche. Er setzte sich in die Nachmittagsvorstellungen. Der Zuschauerraum war selten voll besetzt. Auch die übrigen Zuschauer waren meistens Kinder, immer vorausgesetzt, die gezeigten Filme waren jugendfrei. Die Vorstellungen begannen mit Reklame-Dias und Musik von Schallplatten. Die Dias warben außer für Dörings Eisdiele und das Ausflugslokal Kranichhorst im Nöschental für die nächsten drei oder vier dem Programm zugedachten Spielfilme. Manchmal wurde, unter der Überschrift Pst! Feind hört mit!, vor unvorsichtigem Gerede gewarnt, wobei sich von links unten nach rechts oben ein bedrohlicher Männerschatten über die Leinwand legte. Die Schallplattenmusik wurde schließlich abgebrochen. Ein dreifacher Gong ertönte, das Licht erlosch vollends, und das eigentliche Filmprogramm fing an.
Jacob liebte diese Augenblicke und genoss sie sehr. Dabei waren die Kulturfilme immer langweilig. Die Deutsche Wochenschau fing damit an, dass hinter dem majestätisch gereckten Reichsadler zu dröhnender Musik ein Strahlenkranz in Bewegung geriet. Darauf folgten Aufnahmen von der Ostfront. Jacob in seinem Plüschsitz stemmte gelangweilt einen Fuß gegen eine Stuhllehne der Vorderreihe und kaute ein gelbes Karamellbonbon.
Er betrat das Corso nie durch den Vordereingang. Viele der gezeigten Filme waren nicht zugelassen für Jugendliche unter vierzehn. Frau Zinke, die Besitzerin und eine grämliche Person, achtete streng darauf, dass an niemanden, der unter vierzehn war oder doch so aussah, eine Eintrittskarte verkauft würde. Sie hatte Angst vor Kontrollen und davor, dass sie wegen minderjähriger Besucher in Erwachsenenfilmen irgend Ärger bekam.
Frau Zinkes Tochter Geesche war ein Jahr jünger als Jacob und Ytsche Lehmann. Meistens spielte sie mit ihren schmuddeligen Puppen im halbdunklen Hof des Hauses Lange Gasse neun und war damit vollauf zufrieden. Manchmal hatte sie Lust auf Filme mit Wolf Albach-Retty und Siegfried Breuer, der einen dämonischen Schnurrbart trug. Geesche wusste, wie sie über den Hof des Corso-Gebäudes durch einen Hintereingang ins Kino kommen konnte. Der Hintereingang blieb immer abgeschlossen, auf Anweisung von Frau Zinke. Geesche wusste, wo ihre Mutter den Schlüssel versteckte. Geesche nahm sich heimlich den Schlüssel und gab ihn an Jacob und Ytsche Lehmann heraus.
Noch lieber ging sie selber mit ins Corso. Sie öffnete behutsam die Hintertür. Dort fing eine Treppe an, die, an der Vorführkabine vorbei, zunächst auf den Rang führte, wo der dunkelrote Logensesselplüsch schwach nach Mottenpulver roch. Vom Rang lief eine andere Treppe hinunter ins Parkett. Die Hintertür wurde am besten geöffnet unmittelbar nach Beginn der Reklame-Dia-Schau. Frau Zinke war da vollauf mit dem Projektor beschäftigt.
Geesche ermöglichte Jacob und Ytsche den heimlichen Weg ins Filmtheater Corso und verlangte dafür entsprechend Tribut. Geesche wollte zum Beispiel, dass Jacob sich neben sie legte, unter einen mit Dachpappe gedeckten Schuppen im Hof des Hauses Lange Gasse neun, wo immer ein scharfer Geruch nach Holzschutzmitteln hing. In dem Schuppen stand neben einem alten Leiterwagen und verschiedenem Metallgerät ein aus Matratzen und alten Sofadecken hergerichtetes Bett, das sich Geesche gemacht hatte, für ihre schmuddeligen Puppen und für Jacob. Sie wollte, dass der neben ihr auf dem Bett liegende Jacob die Augen schloss und seinen Mund drückte auf ihren, der fast immer verschmiert war von Süßigkeiten, am liebsten Kunsthonig und Schokolade. Nicht bloß deswegen ekelte sich Jacob und weigerte sich, Geesches Forderungen zu erfüllen. Ytsche Lehmann, der Geesche schon lange kannte, war neidisch auf Jacob gerade deswegen. Jacob wusste das. Ytsche hatte es ihm gestanden, mit hochrotem Gesicht. Geesche machte sich lustig über Ytsche, sie nannte ihn fett und schwabbelig, was Ytsche zu schaffen machte und dazu führte, dass er immer noch hündischer wurde zu Geesche und immer noch neidischer auf Jacob.
Geesche ging mit Jacob ins Filmtheater Corso zu einer Nachmittagsvorstellung des Veit-Harlan-Films Jud Süß, der sogar für Jugendliche unter achtzehn Jahren verboten war. Über die Entschädigung, die sie verlangte, verlor Geesche kein Wort. Jacob hatte ihr vorher bloß versprechen müssen, dass er eine Belohnung geben müsse, was es auch sei. Jacob fürchtete, dass sie vielleicht beträchtlich ausfiele, aber er war enorm neugierig auf diesen Film, über den alle Welt redete, und wollte ihn unbedingt sehen.
Jud Süß erzählte von einem Menschen namens Oppenheimer im achtzehnten Jahrhundert. Ein fetter Herzog schickte nach dem jungen