Megan Rapinoe. Luca Caioli
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In der Oak Meadow Road wachsen die Zwillinge draußen auf. Denise lässt sie herumlaufen, sie dürfen kommen und gehen, wann sie wollen. Nur wenn es Zeit zum Essen ist, steckt ihre Mutter zwei Finger in den Mund und pfeift laut. Das klingt dann fast wie eine Feuerwehrsirene, und Megan und Rachael wissen, sie sollten innerhalb von zehn Minuten auftauchen, wenn sie keinen Hausarrest bekommen wollen.
Die zwei Schwestern, immer in Begleitung ihres Cousins Steven, verleben eine wunderbare Kindheit mit Ausflügen und Abenteuern à la Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Stundenlang fischen sie Flusskrebse in dem kleinen Bach nahe ihrem Haus, wobei Speckstücke oder Würstchenreste als Köder dienen. Die Technik zahlt sich aus: Eines Tages befinden sich siebzig Krebse in ihrem Eimer. Ein Rekord. Im Hühnerstall haben sie sich eine kleine Hütte gebaut; überall liegt Kot herum, und es riecht streng, aber das stört sie nicht sonderlich. Sie ziehen sich gern dorthin zurück, fernab von anderen Menschen.
Megan und Rachael sind nicht nur gern in der Natur, sie spielen auch begeistert Hockey und Flag Football1 mit den anderen Kindern des Viertels auf der Straße. Jede Aktivität nutzen sie, um sich zu messen: Rachael gegen Megan im Basketball, Megan gegen Rachael im American Football (wobei jede mal Quarterback, mal Receiver ist) und sogar eine gegen die andere im Baseball (oft mit imaginären Partnern) auf dem rautenförmigen Platz auf der anderen Seite der Straße, in der Nähe der Cow Creek Church. Baseball spielen sie auch zu Hause mit einem Mini-Schläger und zusammengerollten Socken als Bällen. Diese Duelle enden immer mit Gezanke wegen eines Punkts, eines Fehlers, eines nicht gegebenen Korbs, kurzum: Alles führt zu Unstimmigkeiten, nicht zuletzt das von Megan hinterlassene Chaos im gemeinsamen Zimmer, das in Rachaels Augen nie ausreichend aufgeräumt ist.
Brian, der fünf Jahre ältere Bruder, bleibt in der Familie der Experte in Sachen Angeln, Abenteuer und Sport. Megan und Rachael himmeln ihn an: Er ist ihr Vorbild, sorgt für Lacher, wenn er Steve Urkel2 oder Jim Carrey und dessen unmögliche Tanzbewegungen nachahmt. In gewisser Hinsicht ähneln sich Brian und Megan äußerlich, sie haben nahezu das gleiche Lächeln und den gleichen Blick. Auch ihre Persönlichkeiten weisen Gemeinsamkeiten auf: Beide sind extrovertiert, bringen andere gern zum Lachen, fühlen sich vor Publikum wohl. Die Zwillinge sehen in ihrem großen Bruder einen lieben, aufmerksamen Kerl. Begeistert folgen sie ihm auf seinen Abenteuern: Sie jagen Hühner, klettern auf Bäume, rennen durch Kornfelder, gehen angeln und machen, ganz klar, gemeinsam Sport. Brian weckt in Rachael und Megan die Leidenschaft fürs Fußballspielen. Als sie vier Jahre alt sind und er neun, sehen sie bei einem Turnier zu, an dem er mit der von Mutter Denise trainierten Mannschaft teilnimmt. Sofort sind die Mädchen fasziniert von dem Spiel und wollen es ihm gleichtun: In der Halbzeitpause rennen sie aufs Spielfeld und treten voller Begeisterung gegen den Ball. So kommt es, dass der große Bruder sich ihrer annimmt und ihnen auf dem Fußballfeld neben der Kirche die Grundlagen in Schießen und Ballführung beibringt.
Neben den Fußballpartien und den Abenteuern draußen spielt die Schule natürlich eine entscheidende Rolle im Leben der Zwillinge. Sie besuchen die Junction School von Palo Cedro, die vom „Kindergarden“ bis zur achten Klasse reicht. Rachael, genannt Waychy Wapinoe, weil sie noch nicht die richtige Aussprache des R beherrscht, ist der Liebling der Lehrer. Sie ist eine schüchterne, stille und fleißige Schülerin. Das genaue Gegenteil von Megan, die gern den Mund aufmacht, vor allem, wenn ihre Schwester ihr die richtige Antwort zugeflüstert hat.
Die zwei Mädchen sind die Pausenköniginnen. Auf ihren Dreirädern kommen sie als Schnellste durch den Slalomparcours, nehmen an sämtlichen Ballsportarten teil, ernten Bewunderung der anderen Kinder beim Double Dutch, einem Springseilspiel, das damals die Pausenhöfe eroberte. Mit fünf Jahren sind sie die Champions in ihrer Klasse.
Im Alter von sieben Jahren begreifen die Zwillinge nicht wirklich, was mit ihrem großen Bruder geschieht: Er raucht Marihuana. Drei Jahre später setzen sich die Eltern mit ihnen an den Esstisch und erklären ihnen, dass Brian festgenommen wurde, weil er Methamphetamin mit in die Schule gebracht hat. Mit achtzehn ist ihr Bruder drogenabhängig: Er nimmt Heroin. Er wird wegen Autodiebstahl, Fahrerflucht und Fahren unter Drogeneinfluss angezeigt. Er kommt nicht in die Erziehungsanstalt, sondern direkt ins Gefängnis. Von da an ist Brian in weißen Gangs, er lässt sich das Hakenkreuz auf die Handinnenfläche und die Siegrune, das Symbol der SS, auf Finger, Hüften und Waden tätowieren. Um von den Bossen der Gangs akzeptiert und Teil einer „Familie“ zu werden, die ihn hinter Gittern beschützen soll, wird er zu einem weißen Suprematisten.
Denise ist verzweifelt. Sie hat ihre Kinder stets entsprechend dem christlichen Glauben und der christlichen Werte erzogen, ihnen Nächstenliebe statt Hass und Rassismus eingeschärft. Und sie war ihnen immer ein einwandfreies Vorbild: Neben ihren Aufgaben als Mutter engagierte sie sich ehrenamtlich für die Kirche, half Obdachlosen und bei der Tafel der Stadt. Nein, Denise hätte sich nie im Leben vorstellen können, dass Brian, jener brave, liebe kleine Junge eines Tages so enden würde. Doch Heroin ist grausam und niederträchtig, ein Blutegel, den man nicht mehr loswird. Brian wandert immer wieder ins Gefängnis, wird nach der ersten Entlassung erneut mehrfach verurteilt wegen seiner Drogensucht und seines Verhaltens im Gefängnis: Besitz von Rauschmitteln und Waffen sowie drei Übergriffe auf andere Häftlinge. Insgesamt verbringt er von sechzehn Gefängnisjahren acht in Isolationshaft. Heute, im Alter von vierzig Jahren, sieht Brian womöglich zum ersten Mal Licht am Ende des Tunnels: Nachdem er den Großteil seines Lebens als Erwachsener eingesperrt war, viel nachgedacht und seine Sucht überwunden hat, nachdem er die Nazi-Tätowierungen hat entfernen lassen und an einem Programm zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft teilgenommen hat, ist er auf Bewährung freigelassen worden. Er hofft nun auf ein neues Leben gemeinsam mit seinem Sohn Austin, der ebenfalls von Denise und Jim großgezogen worden ist. Brian möchte wieder Psychologie studieren und träumt davon, eines Tages zusammen mit Megan und der ganzen Rapinoe-Familie einen Titel feiern zu können.
Trotz der langen Jahre im Gefängnis, getrennt von seiner Familie, ist das enge Band zwischen Brian, Megan und Rachael nie abgerissen. Nur die Rollen sind nun anders verteilt. Während Brian früher das Idol von Megan war, schaut heute er zu seiner kleinen Schwester auf. Selbst hinter Gittern hat der große Bruder kein Spiel von „Pinoe“ bei den Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften verpasst. Während der WM 2015 stand der Fernseher allerdings im Gang, mehr als vierzig Meter von Brians Zelle entfernt. Also hat er sechzig Bücher aufeinander gestapelt, mit Streifen abgerissener Bettlaken zusammengebunden und ist auf diese Behelfskonstruktion geklettert, um durch das kleine Fenster in der Tür seiner Zelle wenigsten einen Teil des Bildschirms zu sehen. Diese Anekdote zeugt von der Bewunderung für seine kleine Schwester, „eine Sportlegende, auf und neben dem Platz“, wie er sie nach dem Sieg der USA bei der WM in Frankreich auf Instagram beschrieben hat. Megan hat sich am 7. Juli 2019 im Fernsehen direkt an Brian gewandt, nachdem sie ihren zweiten Weltmeistertitel erobert hatte. Bei einem Interview unmittelbar nach dem Spiel hat sie die Gelegenheit genutzt und ihm gratuliert: „Just one thing: Happy birthday, Brian. I love you so much.“ Dazu schickte sie ihm einen Luft-kuss über die Kamera.
Die amerikanische Starfußballerin hat nie versucht, die Drogensucht ihres Bruders zu verheimlichen. Sie hat sogar offen erklärt, seine Geschichte habe sowohl ihre Sportkarriere als auch ihren Weg als Aktivistin beeinflusst. Sie führte unter anderem dazu, dass Megan sich ausführlich mit der Reform des amerikanischen Drogengesetzes auseinandersetzte und den Menschen in der Gesellschaft helfen will, die besonders verletzlich sind. Denn inhaftierte Drogenabhängige sind oft „nur ganz normale Leute, sie sind deine Brüder, deine Freunde und deine Familie“.
Ein langer Erkenntnisprozess für die junge Frau und eine schmerzhafte Erfahrung für ein zehnjähriges Kind. Wie konnte das sein: Der Bruder, den sie so anhimmelte und dem sie nacheiferte, mit seinem blonden Pilzkopf und der Nummer