Mami Box 1 – Familienroman. Claudia Torwegge

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Mami Box 1 – Familienroman - Claudia Torwegge Mami Box

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Kinderfest. Wie fröhlich waren sie alle gewesen, sie hatten gespielt, gescherzt und gelacht, und die Stunden waren schnell vergangen. Laura hatte gestrahlt. Vera war bange bei dem Gedanken daran, was jetzt unter Umständen auf sie zukommen konnte. Dieses Kind durfte doch nicht wieder entwurzelt werden!

      Als es um punkt zehn Uhr klingelte, ganz kurz, kaum angetippt, ging Vera herzklopfend an die Tür. Sie sah sich einer mittelgroßen schlanken Frau gegenüber, mit schmalem Gesicht und ernsten dunklen Augen, hoher Stirn unter straff zurückgestrichenem schwarzbraunem Haar.

      »Ich bin Alice Pavel«, sagte die Besucherin.

      »Ja. Kommen Sie herein.« Veras Stimme klang belegt. Sie bot Alice Pavel Platz in der Sitzecke im Wohnzimmer an. Ihre Gefühle waren sehr gemischt. Sie hatte sehr viel innere Vorbehalte gegen diese Frau, jetzt mußte sie gerechterweise zugeben, daß sie eine angenehme, gepflegte Erscheinung war, in ihrem schlichten Kostüm mit der blütenweißen Bluse.

      »Sie haben es sehr schön hier«, bemerkte Alice Pavel leise, als ihr Blick durch den großen Raum schweifte, darin die Morgensonne die Möbel glänzen ließ. Sie sah auch den Tisch in der Ecke, auf dem, um einen Blumenstrauß herum gruppiert, allerlei hübsche Geschenke standen.

      »Das ist Lauras Geburtstagstisch«, erklärte Vera.

      Alice Pavel nickte, um ihren Mund zuckte es weh. Sie legte die Hände zusammen, schmucklos wie die ganze Person, und sie sah die Hausfrau an, als wüßte sie nicht, wo beginnen.

      »Sie kommen aus Rumänien, wie Frau Behrend mir sagte«, half Vera ihr.

      »Ja, aus Bukarest. Ich bin dort Ärztin an einem Krankenhaus.« Sie machte eine Pause, bevor sie mit schwerer Stimme fortfuhr: »Der Mann, der mein Kind damals fortschaffte, hat mir erst auf dem Totenbett gestanden, wohin es gekommen ist.«

      »Hat er…« Vera befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen, »hat er es Ihnen geraubt?«

      »Nein. Ich hatte es verkauft.« Unsägliches Elend lag in dem Blick, der Veras Blick begegnete.

      Fassungslos starrte Vera sie an. Hatte sie recht gehört? Eine Mutter, die ihr Kind verkaufte! Sie wollte empört sein, ihr Verachtung ins Gesicht schleudern – aber seltsam, sie konnte es nicht. Sie fühlte sich eher bange, beklommen, als lege sich die Last eines ihr unbekannten Schicksals auf die Schultern.

      »Erzählen Sie, Frau Pavel«, sagte sie, als sie wieder Worte fand.

      Und Alice Pavel begann… Sie holte weit aus, sprach langsam, schleppend. Wie ein Film im Zeitlupentempo zeigte sich Vera ein junges Leben, das dem ihrigen sehr fern lag.

      Arm waren die Menschen in dem kleinen Ort im Hügelland der Moldau, wo Alice als drittes Kind in der Familie geboren wurde. Der Vater starb früh, die Mutter mußte Alice und die beiden älteren Brüder mit Schichtarbeit in einer Fabrik über die Runden bringen. Das Monatsgehalt einer Arbeiterin war so gering, daß es kaum zum Allernötigsten reichte.

      Die heranwachsende Alice hatte nur einen Gedanken, dieser Armseligkeit zu entfliehen. Sie wollte viel lernen, und sie lernte leicht und schnell. Die Lehrer förderten sie. Ihr Traum war, in der Hauptstadt zu studieren, später als Ärztin zu helfen. Sie arbeitete dafür. In einem Jahr sollte sie die Schule verlassen – als Beste ihrer Klasse.

      Eine Schwangerschaft paßte nicht in diesen Traum.

      Es geschah nach einem Dorffest, ein junger Mann aus dem Nachbarort verführte sie. Es mochte auch der Hunger nach ein wenig Liebe und Zärtlichkeit gewesen sein, daß sie es zugelassen hatte.

      Vier Monate dauerte es, bis die unerfahrene Siebzehnjährige merkte, daß sie schwanger war. Für Alice eine Katastrophe. Ihr Traum war geplatzt, ihre Zukunft hieß Schande. Hier wurden unverheiratete junge Mütter geächtet, ihre Mutter, hart und verbittert geworden im Daseinskampf, hätte sie davongejagt. Der Vater des Kindes war längst über alle Berge. Sie hätte ihn auch nicht gewollt. Es war nur eine flüchtige Affäre gewesen.

      In ihrer Not wandte sich sich an einen Arzt, den hier alle kannten, obwohl sie seinen Namen nur hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Dr. Manescu praktizierte nicht mehr. Es hieß, man habe ihm die Zulassung wegen dunkler Geschäfte entzogen. Bewiesen war nichts. Er lebte auch ohne Arbeit gut, ging hin und wieder auf Reisen, niemand wußte, wohin.

      Dieser Mann, etwa Anfang oder Mitte fünfzig nahm das untröstliche Mädchen in den Arm.

      »Mach dir keine Sorgen, ich kann dir helfen. Du bringst dein Kind heimlich zur Welt – und verdienst dabei eine Menge Geld. Damit kannst du dir dein Studium finanzieren. Von der Existenz des Kindes wird hier niemand erfahren. Es wird im reichen Westen aufwachsen und ein wunderbares Leben haben.«

      Alice bekam das Kind, ein Mädchen. Sie sah es nur einmal für zwei kurze Minuten aus fünf Metern Entfernung. Als sie es am nächsten Tag noch einmal sehen wollte, war es verschwunden. Mit ihm Dr. Manescu. Er war wieder einmal »auf Reisen«. Aber er kam wieder.

      »Deinem Kind geht es gut«, sagte er, und er gab ihr das Geld. Dreitausend Mark, für Alice eine ungeheure Summe, wenn man bedachte, daß der Arbeitslohn ihrer Mutter siebzig Mark betrug und sie eine Familie davon ernähren mußte. Ein Trostpflaster konnte es aber nicht sein.

      Hier stockte Alice Pavel in ihrer Erzählung.

      »Woher hatte er das Geld?« fragte Vera nach einer Pause.

      »In Osteuropa blüht der Babyhandel«, antwortete Alice. »Rumänien ist eine Hochburg dafür. Manescu gehörte zu einer Mafia-Bande, die Kinder ins Ausland schmuggelt. Aus Verzweiflung über ihre schlechte wirtschaftliche Situation sind immer mehr Eltern bereit, ihre Kinder zu verkaufen. Hauptabnehmer sind Paare aus dem Westen, die sich damit, ohne weitere Umstände, ihren Kinderwunsch erfüllen.«

      Vera fröstelte es. Sie sah in Abgründe, von denen sie bisher keine Ahnung hatte.

      Sie war dann, fuhr Alice Pavel fort, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte, ihren Weg gegangen. Sie hatte studiert, ein Examen nach dem anderen bestanden. Nichts anderes konnte es mehr für sie geben. Dafür war der Preis zu hoch gewesen.

      Manchmal fuhr sie in ihr Dorf, um ihre einsam gewordene Mutter zu besuchen. Die Brüder waren aus dem Haus, sie wußten kaum etwas von ihnen. Und jedes Mal, wenn sie dort war, suchte sie auch Dr. Manescu auf, flehte ihn an, ihr zu sagen, wohin er ihr Kind gebracht hatte. Obwohl sie wußte, daß sie kein Anrecht mehr darauf hatte, wollte sie doch wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt haben. Irgendwann, so dachte sie immer wieder in all den Jahren, gab es vielleicht doch einen Weg für sie, zu erfahren, was aus ihrem kleinen Mädchen geworden war.

      Aber Dr. Manescu schwieg. Er gehorchte damit dem Gebot der Händler-Organisation, der er sich verpflichtet hatte.

      Dann wurde er krank, sehr krank. Nur in der Klinik in Bukarest hoffte er noch Hilfe zu finden. Geld spielte keine Rolle dabei, er hatte genug aus seinem verbrecherischen Tun. Er kam auf ihre Station. Rettung gab es nicht mehr für ihn, der Krebs hatte ihn zerfressen. Doch klaren Geistes war er bis zuletzt.

      Es waren zu viele, sagte er, als sie wieder und wieder um einen Hinweis bat, flehte, bettelte. Bis zuletzt – dann nannte er ihr einen Namen, eine Stadt in Deutschland…

      »Und so kam ich hierher«, schloß Alice Pavel.

      Vera betrachtete sie, von den widerstreitendsten Gefühlen erfüllt. »Sie suchten die Matthaus«, stellte sie fest. »Aber die gibt es nicht mehr.«

      »Ich

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