Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
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Der Bischof von Rom als christlicher Zeuge
Vorbereitung auf das Unmögliche
Ein evangelikales Kardinalskollegium
Die Reform der Römischen Kurie
EPILOG: Heiligkeit und Mission
Wo wird mit feurigen Zungen von Gott und seiner Liebe gesprochen? Wo wird von den »Geboten Gottes« nicht als von einer mühselig zu respektierenden Pflicht, sondern von ihnen als der herrlichen Befreiung des Menschen von versklavender Lebensangst und von frustrierendem Egoismus geredet? Wo wird in der Kirche nicht nur gebetet, sondern das Gebet auch als pfingstliche Gabe des Geistes, als herrliche Gnade erfahren? […] Wir in der Kirche reden zu wenig von Gott oder tun es in einer dürren Indoktrination, der eine wirklich lebendige Kraft fehlt. […] Erst wenn diese Botschaft vom lebendigen Gott in den Kirchen mit aller Kraft des Geistes gepredigt wird, wird der Eindruck verschwinden, die Kirche sei doch nur ein seltsames Relikt aus den Zeiten einer Gesellschaft, die zum Untergang verurteilt ist. […] Und umgekehrt könnte das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und dem Herrn, dem entscheidenden und letzten Wort Gottes in der Geschichte, lebendiger, froher und unbefangener werden.1
– KARL RAHNER SJ
– 1972 –
Heute scheinen wir die Geburt eines neuen Katholizismus zu erleben, der ohne Verlust seiner institutionellen, sakramentalen und sozialen Dimensionen in einem echten Sinn evangelikal ist. […] 2
[Der Katholizismus] in seiner besten Form hat stets eine tiefe persönliche Beziehung mit Christus gefördert. Wenn wir evangelisieren, sind wir aufgerufen, unsere Augen zu ihm zu erheben und jedweden Ekklesiozentrismus zu überwinden. Die Kirche ist wichtig, aber sie ist nicht in sich selbst verschlossen. Sie ist ein Mittel, die ganze Welt durch Jesus Christus in die Vereinigung mit Gott hineinzuziehen. […] Die erste und oberste Priorität besteht für die Kirche darin, die Frohbotschaft von Jesus Christus als eine freudige Botschaft der ganzen Welt zu verkündigen. Nur wenn die Kirche ihrer evangelikalen Mission treu ist, darf sie hoffen, in der Gesellschaft, in der Politik und in der Kultur ihren eigenständigen Beitrag zu leisten.
– AVERY KARDINAL DULLES SJ
– 1991 –
Die Kirche ist aufgerufen, ihren Auftrag […] gründlich zu überdenken […]. Sie darf sich nicht vor jenen beugen, die nur Verwirrung, Gefahren und Bedrohungen sehen. […] Es geht darum, die Aktualität des Evangeliums […] durch persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Jesus Christus zu bestätigen, zu erneuern und zu beleben, damit er Jünger und Missionare berufen kann. […]
Ein katholischer Glaube, der nur als Last betrachtet wird, der nur als Katalog von Regeln und Verboten verstanden wird, sich auf einzelne Frömmigkeitspraktiken beschränkt, Glaubenswahrheiten nur selektiv und partiell akzeptiert, gelegentlich an einigen Sakramenten teilnimmt, nur einige Prinzipien der kirchlichen Lehre nachbetet, Moralvorstellungen zurechtbiegt oder krampfhaft vertritt, die das Leben der Getauften nicht verwandeln, – ein solch reduzierter Glaube wird den Auseinandersetzungen der Zeit nicht standhalten. […] Wir alle müssen (gemäß den Worten Papst Benedikts XVI.) neu beginnen von Christus her: »Am Anfang des Christseins steht […] die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.«
– Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida
– 2007 –
Vorwort
Evangelikaler Katholizismus: eine Einladung zu einer tiefgreifenden katholischen Reform
Als die katholische Kirche den 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils beging, waren die Forderungen nach einer Reform der Kirche nachdrücklich, weitverbreitet und nicht selten misstönend. Doch der Ruf nach einer »Reform« war oft schon das Einzige, was die Rufer miteinander verband.
In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts weisen sowohl die »progressiven« als auch die »traditionalistischen« Katholiken ihre Reform-Agenda vor. Hans Küng, der die Aufgabe des II. Vaticanums einst als »Reform und Wiedervereinigung« beschrieb, ist fest davon überzeugt, dass er weiß, was Reform bedeutet, und auch die Herausgeber von The Wanderer1 oder The Tablet2 sind sich ihrer Sache sicher, obwohl keiner von ihnen sich mit dem jeweils anderen auf die Einzelheiten dieser Reform einigen könnte. Die New York Times hat eine genaue Vorstellung davon, wie eine katholische Reform aussehen sollte, L’Osservatore Romano ebenfalls und dasselbe gilt für Hunderttausende von Bloggern und Internetkommentatoren überall auf der Welt. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Die Forderung nach einer Reform ist de facto universal, doch die Modalitäten der Reform sind allesamt umstritten.
Dennoch gibt es vielleicht noch einen weiteren Berührungspunkt. Grundsätzlich stimmen alle streitenden Parteien darin überein, dass sich die Probleme und Chancen des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwischen 1962 und 1965 – also in den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils – herauskristallisiert haben. Besonders scharfsinnige Beobachter gehen in ihrer Analyse womöglich noch um einige Jahrzehnte weiter zurück, nämlich bis in die Zeit der katholischen intellektuellen Renaissance Mitte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich waren viele Aspekte, die die Konzilsdebatten prägten, damals schon präsent: ein neues biblisches Bewusstsein; ein feineres Gespür für die Bedeutung der Geschichtstheologie und verschiedener philosophischer Sichtweisen; die Erneuerung des kirchlichen Gottesdiensts; eine neue Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Leben. Gemeinhin besteht jedoch über das gesamte Spektrum der kirchlichen und weltlichen Meinungen hinweg Einigkeit darüber, dass der Katholizismus des 21. Jahrhunderts – zum Guten oder zum Schlechten – mit dem II. Vaticanum begann.
Dennoch läuft dieser Konsens-im-Dissens Gefahr, die tieferen Strömungen der kirchlichen und weltlichen Kulturgeschichte außer Acht zu lassen. Er erweckt den Eindruck, als wären die Debatten über die katholische Identität, die die Jahre des Konzils und die darauffolgenden Jahrzehnte geprägt haben, ex nihilo entstanden – oder von Anfang an in der Form geführt worden, zu der sie in der Tat schon sehr bald erstarrten. Das vorliegende Buch und die darin enthaltenen Vorschläge gehen von der Hypothese aus, dass diese bekannten Analysen verschiedene Aspekte des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwar durchaus treffend beleuchten und erklären, insgesamt aber zu oberflächlich sind. Und das wiederum heißt, dass auch die »Reformvorschläge«, die aus diesen Analysen erwachsen, im Großen und Ganzen zu oberflächlich sind und im Kern an einer wirklich tiefgreifenden katholischen Reform vorbeigehen.