Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
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Der Katholizismus der Gegenreformation brachte katholische Kulturen (oder Mikrokulturen) hervor, die den Glauben geradezu osmotisch weitergaben. Doch unter den Säureangriffen der Moderne stürzten diese katholischen Mikrokulturen – insbesondere in den turbulenten 1960er-Jahren – in sich zusammen: in den städtisch-ethnischen Zentren des US-amerikanischen Katholizismus, in Quebec, in Irland, in Spanien, in Portugal, in den Niederlanden, in Bayern, in Frankreich und de facto in der gesamten nordatlantischen katholischen Welt. Gleichzeitig gab es gewisse Hinweise auf eine mögliche und nötige Alternative zum gegenreformatorischen Modell, nämlich einen zutiefst biblischen und sakramentalen Katholizismus, der in Afrika gewaltigen Zulauf fand. Doch noch hat sich diese evangelikale Alternative zum Katholizismus der Gegenreformation in der abendländischen Kirche nicht vollends ausgeprägt, obwohl das gegenreformatorische Modell – aus kulturellen Gründen, die inzwischen klar geworden sein dürften – bereits auf Grund gelaufen und zerschellt ist.
In seinen 2011 erschienenen intellektuellen Memoiren Adventures of an Accidental Sociologist hat Peter L. Berger aus seinem lebenslangen Nachdenken über die Beziehung zwischen Religion und Moderne Folgendes herausdestilliert: Der Pluralisierungsprozess der Moderne bringt die traditionellen Kulturen zum Einsturz. Die Bedingungen der Moderne (die Urbanisierung, die Märkte, die allgemeine Schulpflicht, die postabsolutistische Politik, das herrschende naturwissenschaftliche Paradigma) führen unweigerlich dazu, dass konkurrierende Deutungen der Welt und der menschlichen Bestimmung aufkommen. Wie Berger schreibt: »Die Moderne […] relativiert alles, auch die religiösen Weltanschauungen und Wertesysteme. Diese Relativierung ist für die Moderne wesentlich und beinahe unvermeidlich. Sie ist eine echte Herausforderung für alle religiösen Traditionen und ihre Wahrheitsansprüche.«11 Unter solchen Bedingungen geschieht es nicht und kann es nicht geschehen, dass religiöse Gewissheit auf dem Weg der Osmose durch die umgebende Kultur (oder Mikrokultur) vermittelt wird. Religiöser Glaube, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und eine religiös geprägte Moral können nicht länger als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Der progressive Katholizismus akzeptiert diese Relativierung der religiösen Wahrheit als eine mögliche Deutung – eine mögliche Wahrheit – in einer pluralistischen Welt der Wahrheiten und »Erzählungen«, von denen keine Gewissheit beanspruchen kann. Der traditionalistische Katholizismus dagegen meint, man könne die Moderne rückgängig machen und die alten, kulturell tradierten Gewissheiten wiederherstellen. Doch die »Schlachtbank der Geschichte«, wie Hegel es nannte, hat entschieden, dass die letztgenannte Option de facto keine Option mehr ist. Und gleichzeitig zeigt sich die ganze Unfruchtbarkeit des progressiven Katholizismus – eine Unfähigkeit, den Glauben an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, die einiges mit der Verwässerung der katholischen Wahrheitsansprüche und Lehren zu tun hat –, wenn man sich den religiösen Kahlschlag in Westeuropa ansieht: jenem Teil der Weltkirche, der das progressive Projekt mit der größten Begeisterung aufgegriffen hat. Keine theoretische Beweisführung, sondern die Geschichte selbst hat gezeigt, dass der progressive Katholizismus keine plausible Strategie ist, wenn es darum geht, die Kirche im dritten Jahrtausend in ihrer missionarischen Sendung zu bestärken.
Doch auch der katholische Traditionalismus ist kein plausibles, ja nicht einmal ein mögliches Modell eines lebendigen Katholizismus. Er leugnet die Realität der Bedingungen, unter denen das Evangelium im 21. Jahrhundert verkündet werden muss – und verurteilt sich damit selbst zur evangelikalen Unfruchtbarkeit, weil er, statt zu Bekenntnis und Mission aufzurufen, lieber den Rückzug in Bunker und Katakomben propagiert. Der progressive Katholizismus ist eine Variante des liberalen Protestantismus und findet (obwohl das Tenure-Track-System sein akademisches Fortleben begünstigt) in der Weltkirche keinen demografischen Rückhalt, doch Letzteres gilt ebenso für den traditionalistischen Katholizismus und insbesondere für den schismatischen Traditionalismus, wie ihn der verstorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre begründet hat. Und wer genauer hinsieht, wird sogar feststellen, dass es sich bei beiden Optionen um Varianten desselben gegenreformatorischen, regelbasierten, katechetisch-devotionalen Katholizismus handelt: Das traditionalistische Lager will die Regeln, Katechismusantworten und Frömmigkeitsübungen straffen und festzurren und die Progressiven wollen die Schrauben im Namen der Offenheit oder Barmherzigkeit lockern. Dennoch beziehen sich die einen wie die anderen auf das gegenreformatorische Modell und bleiben darin gefangen wie ein in Bernstein eingeschlossenes Fossil.
Sie werden beide enden und in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist ihr Niedergang nur ein weiterer Hinweis für den Aufstieg des evangelikalen Katholizismus: eines Katholizismus, der aus einem neuen Pfingsten, einer neuen Ausgießung missionarischer Energie für eine neue historische und kulturelle Epoche geboren wird.
Und wieder ist Pfingsten
Nach dem Wunsch des heiligen Johannes XXIII. sollte das Zweite Vatikanische Konzil ein neues Pfingsten werden. Nach dem Wunsch des heiligen Johannes Paul II. sollte das Heilige Jahr 2000 eine Pfingsterfahrung für die gesamte Weltkirche werden und den Katholizismus des dritten Jahrtausends zu einer »Neuevangelisierung« anspornen. Doch man darf den Wunsch nach einem neuen Pfingsten nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sich ein neues Pfingsten zu wünschen heißt, mit dem Feuer zu spielen.
In einer Betrachtung zum Pfingstfest (der jährlichen Feier der ersten Ausgießung des Heiligen Geistes, die oft als die Geburtsstunde der Kirche beschrieben wird) hat Joseph Ratzinger einmal geschrieben: »Der Heilige Geist ist Feuer; wer nicht gebrannt werden will, darf sich ihm nicht nahen.« Im weiteren Verlauf erinnert Ratzinger an ein nichtbiblisches Jesuswort, dass der alexandrinische Theologe Origenes im dritten Jahrhundert überliefert hat: »Wer mir nahe ist«, so sagt Jesus bei Origenes, »ist dem Feuer nahe« – ein Herrenwort, das an Lk 12,49 erinnert: »Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!« Dieses Feuer, so Ratzinger weiter, »weist auf den Zusammenhang von Christus, Heiligem Geist und Kirche in unnachahmlicher Weise hin.«
Diese Beziehung und ihre Verbindung zur Mission hat, so Ratzinger weiter, der heilige Johannes Chrysostomos, der gelehrte Patriarch von Konstantinopel, im vierten Jahrhundert in einem Kommentar zu jener Stelle in der Apostelgeschichte sehr schön beschrieben, in der die aufgeregten Einwohner von Lystra Paulus und Barnabas für Inkarnationen der griechischen Götter Zeus und Hermes halten. Die Apostel erschrecken, als das Volk sie wie Götter verehrt, und sie beeilen sich, den Leuten zu erklären: »Auch wir sind nur Menschen, von gleicher Art wie ihr; wir bringen euch das Evangelium« (vgl. Apg 14,8–18). Chrysostomos schreibt in seiner Auslegung zu diesem Text, dass sie in der Tat Menschen waren, genau wie die überspannten Männer und Frauen von Lystra. Und doch waren sie auch mehr, waren sie anders, denn sie waren vom Feuer berührt worden – und sprachen nun auf geläuterte und machtvolle Weise, denn die Feuerzungen, die bei der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten auf die Kirche herabgekommen waren, hatten sie berührt.
Das Feuer des Heiligen Geistes läutert, inspiriert und schmilzt Männer und Frauen zu einer neuen menschlichen Gemeinschaft zusammen: der Kirche. Durch jedes ihrer Mitglieder und in ihnen ist die Kirche als ein Ganzes der Leib Christi auf Erden. Paulus, Barnabas und alle, die wahrhaft zu Christus bekehrt worden sind – sodass die grundlegende Dynamik ihres Lebens in der Freundschaft mit Christus und der Möglichkeit besteht, diese Freundschaft an andere weiterzugeben –, sind andere Menschen geworden. Christen, die eine radikale Umkehr vollzogen haben, werden zu Männern und Frauen, die von Feuerzungen berührt und vom Heiligen Geist beseelt worden sind, und sie erkennen die bleibende Gegenwart dieses Heiligen Geistes in der Liturgie, wenn sie miteinander beten, einander den Frieden Christi schenken und gemeinsam den Leib und das Blut des Herrn empfangen.
Gegen Ende seiner Betrachtung zum Pfingstfest gibt Joseph Ratzinger bereitwillig zu, dass man sich bei vielen Christen heute fragen muss: »Wo ist die Feuerzunge geblieben?« Und dann formuliert er eine Herausforderung, die den evangelikalen Katholizismus in seiner ganzen Dramatik einfängt: »Der Glaube