Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
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Angesichts der antiklerikalen Stoßrichtung des Risorgimento (der Gründung des Nationalstaates in Italien im 19. Jahrhundert) waren die Kardinäle, die in Rom zusammenkamen, um Pius’ Nachfolger zu wählen, nicht einmal sicher, dass sie dies ohne Gefahr für Leib und Leben würden tun können. Der englische Kardinal Henry Edward Manning schlug sogar vor, man solle das Konklave des Jahres 1878 auf Malta – unter dem Schutz der Kanonen der Royal Navy – abhalten.4 Die Kardinäle entschlossen sich letztlich, doch in Rom zu bleiben, aber sie dachten vermutlich, sie hätten mit dem 68-jährigen Vincenzo Gioacchino Pecci lediglich einen Platzhalter gewählt. In Wirklichkeit läutete diese Wahl das Ende des gegenreformatorischen Katholizismus ein und setzte einen Prozess in Gang, der auch heute, im 21. Jahrhundert, noch nicht abgeschlossen ist.
Das Pontifikat Leos XIII. war das längste seit Beginn der zuverlässigen historischen Aufzeichnungen. Im Laufe dieser Amtszeit, die mehr als ein Vierteljahrhundert währte, arbeitete er unbeirrbar, stetig und beharrlich daran, die Voraussetzungen für eine neuartige katholische Auseinandersetzung mit dem kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Moderne zu schaffen. Dadurch, dass er eine gründliche Beschäftigung mit den Originaltexten Thomas von Aquins anordnete, die so zur Grundlage eines spezifisch katholischen Umgangs mit der Moderne wurden, reformierte er das philosophische und theologische Denken der Kirche.5 Er war der päpstliche Vater der modernen katholischen Bibelwissenschaft, die er für notwendig hielt, um dem zu begegnen, was die Herausforderung der historisch-kritischen Lesart antiker Texte womöglich an zersetzenden Einflüssen mit sich bringen würde.6 Mit seinen Bemühungen, das zu unterscheiden, was im Leben der Kirche wirklich von Dauer und was vergänglich ist, förderte er die ernsthafte historische Wissenschaft.7 Außerdem begünstigte er, gestützt auf die Ideen von Männern wie dem Deutschen Wilhelm Emmanuel von Ketteler und dem britischen Kardinal Manning, eine neue katholische Begegnung mit dem politischen und wirtschaftlichen Leben und legte 1891 mit der Enzyklika Rerum Novarum den Grundstein zu einer modernen katholischen Soziallehre; schon der Titel weist darauf hin, dass es darin um die »neuen Dinge« der Moderne geht und sich seit der rundweg ablehnenden, antimodernen Haltung Pius’ IX. (die Leo als eine Folge der besonderen Situation und Persönlichkeit seines Vorgängers gedeutet hatte) eine entscheidende Wende vollzogen hatte.8Seine stillschweigende Billigung der Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der amerikanischen Verfassung geregelt worden war, setzte einen Prozess in Gang, der dazu führte, dass die katholische Kirche die Religionsfreiheit auf dem II. Vaticanum als grundlegendes Menschenrecht anerkannte. Und das wiederum war die Voraussetzung dafür, dass Johannes Paul II. – der Mann, der das bisher längste Pontifikat Leos XIII. übertraf – die Geschichte des 20. Jahrhunderts veränderte.9
Das Grabmal von Leo XIII. in der römischen Basilika St. Johannes im Lateran wird seiner epischen Leistung in angemessener Weise gerecht. Das Marmorbildnis zeigt den verstorbenen Pontifex nicht liegend, sondern aufrecht stehend und in Schrittstellung, den rechten Arm ausgestreckt, als wolle er die Welt zu einem ernsthaften Gespräch über die Aussichten der Menschheit einladen – und die Kirche aus der Vergangenheit heraus in eine neue, hoffnungsfrohe und evangelikale Zukunft führen.
Aus dieser leoninischen Perspektive lässt sich die katholische Geschichte nach dem II. Vaticanum schärfer ins Auge fassen als über die Einteilung in ein »progressives« und ein »konservatives« Lager, die noch vor Ablauf des Konzils gleichsam in Beton gegossen worden ist. Es trifft sicherlich zu, dass in den 59 Jahren zwischen Leos Tod 1903 und der Eröffnung des II. Vaticanums 1962 unterschiedliche Kräfte innerhalb der Kirche darum rangen, den zukünftigen Kurs zu bestimmen; einige dieser Kräfte wollten die bröckelnden Wälle des gegenreformatorischen Katholizismus abstützen, während andere dem leoninischen Erneuerungsvorstoß grundsätzlich wohlwollend gegenüberstanden. Doch wer versteht, wie große Teile der auf dem II. Vaticanum formulierten Lehre durch das bahnbrechende Pontifikat Leos XIII. überhaupt erst möglich geworden waren, der ist imstande, unter die Oberfläche der Wirrungen und Streitereien der heutigen katholischen Geschichte zu blicken. Und auf dieser tieferen Wahrnehmungsebene wird deutlich, dass sich die Ereignisse während des II. Vaticanums und in der Folgezeit, als die Kirche sich bemühte, die Konzilslehre getreulich umzusetzen, nicht auf einen kirchlichen Machtkampf zwischen einem linken und einem rechten Flügel reduzieren lassen. Es war mehr im Gange und es stand mehr auf dem Spiel – viel mehr.
Wer die tieferen Strömungen im Katholizismus des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auf Leo XIII., den letzten Papst des 19. und ersten Papst des 20. Jahrhunderts, zurückführt, wird auch das II. Vaticanum und alles, was seither geschehen ist, richtig und von Grund auf verstehen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Prozess, der mit Leos Reformen einsetzte und beabsichtigte, dass der Katholizismus über seine gegenreformatorische Prägung hinauswachsen sollte, auf einen dramatischen Höhepunkt geführt. Die Pontifikate Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. haben eine amtliche Auslegung des II. Vaticanums vorgelegt und es als ein Konzil der Reform durch Wiederherstellung, Erneuerung und Entwicklung interpretiert, das während der Gegenreformation verloren gegangene, vergessene oder vernachlässigte Elemente des kirchlichen Lebens wieder neu zur Geltung gebracht und in den Dienst der evangelikalen Erneuerung gestellt hat. Dieser durch die Lehre Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. geschaffene Deutungsrahmen wiederum hat zwei unangemessenen Lesarten des II. Vaticanums ein Ende bereitet: der (typischerweise im progressiven Lager verbreiteten) Vorstellung, das Konzil habe mit der Vergangenheit gebrochen, und der (von den Traditionalisten bevorzugten) Vorstellung, das Konzil sei ein Zugeständnis an die Moderne und schon allein deshalb ein furchtbarer Fehler gewesen.
Bei alledem war, wie schon gesagt, etwas sehr viel Weitreichenderes im Gange, als es die Verzerrungen durch die progressiv-konservative Brille ahnen lassen. Dieses Etwas war nicht weniger als das Ende eines Zeitalters – der Ära des gegenreformatorischen Katholizismus – und der Beginn einer neuen Etappe in der katholischen Geschichte: der Ära des evangelikalen Katholizismus.
Die Kirche der Gegenreformation, die darauf bedacht war, den Katholizismus durch einfache, geradlinige Katechese und fromme Andachtsübung zu erhalten, mag in der Zeit zwischen der Spaltung der abendländischen Christenheit Mitte des 16. Jahrhunderts und dem kulturellen Triumph der Moderne im Laufe des 19. Jahrhunderts durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Der gegenreformatorische Katholizismus hat durch die Reform des Priestertums und des Ordenslebens unzählige Heilige hervorgebracht. Er hat die Neue Welt evangelisiert, große Missionare wie Franz Xaver nach Indien, Japan und China und Peter Chanel nach Ozeanien entsandt und Charles Martial Lavigerie zur Gründung der Weißen Väter, der Missionare Afrikas, inspiriert. Er hat das katholische Leben in Großbritannien bis zu einem gewissen Grad wiederaufgebaut, die Französische Revolution überlebt, Bismarcks antikatholischem Kulturkampf die Stirn geboten und der antiklerikalen Verfolgung in Mexiko standgehalten. Der Katholizismus der Gegenreformation hat die Kirche in einer bis dato beispiellosen Situation der Religionsfreiheit gegen den Widerstand bigotter Protestanten und deistischer Skeptiker in den neuen Vereinigten Staaten etabliert. Er hat den ganzen Reichtum der marianischen Volksfrömmigkeit hervorgebracht. Und vor allem war es der gegenreformatorische Katholizismus, der der kommunistischen Verfolgung – der schlimmsten Verfolgung der Kirchengeschichte – Widerstand geleistet hat.
Andererseits war diese Form des Katholizismus nicht geeignet, sich der Herausforderung der Moderne zu stellen, denn das verlangte von den Katholiken mehr, als (auf amerikanische Verhältnisse bezogen) den Baltimore-Katechismus auswendig zu lernen und die Wundertätige Medaille zu tragen. Das wusste der Brite John Henry Newman schon Mitte des 19. Jahrhunderts, und er wusste auch, dass der »Liberalismus« in der Religion, wie er es abschätzig nannte – Religion als ein bloßes Gefühl –, keine angemessene Antwort auf die Herausforderung der Moderne war.10 Und Leo XIII. wusste