Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
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Ein evangelikaler Katholizismus ist auch dort am Werk, wo aus den vermeintlichen Ruinen des einstmals bedeutsamen westlichen Katholizismus neues Leben wächst. Überall auf der Welt blühen an den unwahrscheinlichsten Orten katholische Pfarreien (Soho im Londoner West End; Greenville, South Carolina, im Herzen des amerikanischen Bible Belt; Manhattan Zentrum) und Studentengemeinden (an der A&M University in Texas, in Princeton und an der katholischen Universität Lemberg, die von der ehemals illegalen Untergrundkirche der griechischen Katholiken in der Ukraine betrieben wird), weil Seelsorger ohne Kompromisse das Evangelium verkünden, die Sakramente mit Würde und Gnade feiern, den Ausgegrenzten dienen und auf diese Weise »die Heiligen für die Mission rüsten« (vgl. Eph 4,12). Es ist kein Zufall, dass diese und ähnliche Pfarreien, Studentengemeinden und höhere katholische Bildungseinrichtungen in einer ansonsten eher trockenen Periode eine große Menge an Priester- und Ordensberufungen hervorbringen.
Von Yonkers, New York, über Alma, Michigan, bis hin nach Nashville, Tennessee, von Pluscarden Abbey im schottischen Hochland bis hin zum Kloster Our Lady of the Annunciation in Clear Creek, Oklahoma, schießen Frauen- und Männerorden aus dem Boden, die ein geweihtes Leben nach dem Modell des evangelikalen Katholizismus führen, in einer Zeit, in der andere Orden zur Bedeutungslosigkeit verkümmern, weil sie in sich nicht plausibel sind.
Erneuerungsbewegungen und neue katholische Gemeinschaften, die die evangelikale Essenz des II. Vaticanums begriffen haben und ein Leben der missionarischen Jüngerschaft führen, sind die lebendigsten Saatfelder der Kirche in einst so durch und durch katholischen Ländern wie Frankreich oder Argentinien.
Seminare, die evangelikale katholische Priester für das 21. Jahrhundert ausbilden, verzeichnen wachsende Mitgliederzahlen (und sind in einigen wenigen Fällen sogar ausgelastet), während Seminare, die noch immer in den tief ausgefahrenen Furchen eines entweder progressiven oder traditionalistischen Katholizismus feststecken, auf der Stelle treten oder langsam dahinsiechen.
In der ganzen westlichen katholischen Welt inspiriert der evangelikale Katholizismus kreative intellektuelle Leistungen, was zu einem nicht geringen Teil daran liegt, dass der Glaube von vornherein nicht als irgendein Objekt betrachtet wird, das nach allen Regeln der postmodernen Skepsis und Strukturlosigkeit zerpflückt werden muss, sondern als ein kostbares Offenbarungsgeschenk, das den Verstand herausfordert und seine ganze Wertschätzung verdient.
Selbst in den Künsten sind die Anfänge einer evangelikalen katholischen Renaissance zu erkennen – etwa in den Werken des britischen Komponisten James MacMillan, des amerikanischen Architekten Duncan Stroik, der in Russland gebürtigen Malerin Natalia Tsarkova, des irischen Bildhauers Dony MacManus, der niederländischen Bildhauerin Daphné Du Barry und der in Rom ansässigen Kunsthistorikerin Elizabeth Lev.
Vor diesem Hintergrund mag man versucht sein, G. K. Chestertons berühmte Bemerkung zu zitieren, wonach »das christliche Ideal nicht erprobt und für zu leicht befunden, sondern für zu schwer befunden und gar nicht erst erprobt wurde«. Doch das wäre jenen gegenüber unfair, denen der evangelikale Katholizismus nie vorgeschlagen worden ist – den dürftig Katechetisierten, den liturgisch Gelangweilten, den moralisch Verwirrten. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist der evangelikale Katholizismus nach einem mehr als hundertjährigen Ringen darum, wie genau man diese neue Art, in der Welt katholisch zu sein, definieren soll – einem Ringen, das sich bis zum Pontifikat Leos XIII. zurückverfolgen lässt –, gerade dabei, zu einer ersten Reife zu gelangen. Und überall dort, wo der evangelikale Katholizismus angeboten wird, ist die Begeisterung größer als die Ablehnung. So lehrt es die Erfahrung der eben erwähnten Pfarreien, Studentengemeinden, Ordensgemeinschaften, Seminare, Erneuerungsbewegungen und intellektuellen Zentren.
Doch er muss angeboten werden. Dieses Angebot detaillierter zu entwerfen ist der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung.
KAPITEL ZWEI
Wahrheit mit Konsequenzen
Hat das Zweite Vatikanische Konzil einen grundlegenden Wandel im katholischen Selbstverständnis und damit letztlich einen Bruch mit der Vergangenheit herbeigeführt? War das Konzil ein furchtbarer Fehler? Hat es eine Horde Dämonen losgelassen, die man andernfalls hätte im Zaum halten können? Oder war das II. Vaticanum ein Triumph und wurde in der Folgezeit von Männern vereinnahmt, die entschlossen waren, die Kirche zu den Gewissheiten und der Sicherheit der 1950er-Jahre zurückzuführen? Ist das Konzil in Fragen wie der nach dem richtigen Verhältnis zwischen Kirche und Staat, dem Verhältnis der Kirche zum Judentum der Gegenwart, den Bemühungen um die Einheit des Christentums, dem interreligiösen Dialog und der Religionsfreiheit der bestehenden katholischen Lehre untreu geworden?
Jahrzehntelang hat die katholische Kirche in diesen und anderen grundlegenden Aspekten über die korrekte Interpretation eines Ereignisses debattiert, das – darin sind sich alle streitenden Parteien einig – im katholischen Leben einen Wendepunkt markiert: das II. Vaticanum. Diese Debatten haben einiges an interessanter historischer und einiges an ernst zu nehmender theologischer Arbeit hervorgebracht – und außerdem gegenseitige Anathemata (die meist eher im Stillen als offiziell ausgesprochen wurden), ein nicht geringes Maß an Groll sowie ein formelles Schisma (die kleine Abspaltung der Lefebvre-Anhänger) auf der rechten und ein weitaus folgenschwereres psychologisches Schisma auf der linken Seite (nämlich insofern, als zahlreiche Katholiken schon lange nicht mehr das glauben und bekennen, was die katholische Kirche glaubt und bekennt, ihr aber im formalen oder kirchenrechtlichen Sinne nach wie vor angehören). Diese Debatten waren nicht umsonst.
Dennoch haben sie tendenziell dazu beigetragen, die wahrhaft radikale Zielsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils und sein tiefgreifendes katholisches Reformprogramm zu verdunkeln.
Diese Zielsetzung bestand darin, das Evangelium in die Mitte des katholischen Lebens zu stellen und um diese Mitte herum einen reformierten Katholizismus aufzubauen: einen evangelikalen Katholizismus, der imstande sein würde, einer entzauberten Welt die Frohbotschaft von Jesus Christus zu verkünden und so auch unter den entschieden veränderten Bedingungen des dritten Jahrtausends der christlichen Geschichte den Missionsauftrag des Herrn zu erfüllen.
Keine »Spiritualität«
Zu den Kuriositäten der spätmodernen und postmodernen Kultur gehört die Ausbreitung von »Spiritualitäten« aller Art. Auf den entsprechenden Regalen der Buchläden kann ihr Angebot Regal um Regal bestaunt werden: Produkte, die Zeugnis davon ablegen, dass – so »entzaubert« die westliche Welt des 21. Jahrhunderts nach den Worten Max Webers auch sein mag – die alten Bedürfnisse des Homo religiosus doch nach wie vor der Befriedigung harren. Im Großen und Ganzen handelt es sich bei diesen »Spiritualitäten« um zahllose Variationen über das Thema der menschlichen Suche nach Gott – mit dem Ergebnis, dass die Welt (und sogar die Kirche) jemanden, der den Kontakt mit dem Göttlichen anstrebt, heute ganz selbstverständlich als Seeker, als »Suchenden«, bezeichnet.
Diese anthropozentrische und zutiefst subjektive Suche nach dem Göttlichen ist genau das Gegenteil dessen, was der evangelikale Katholizismus will und was das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt hat. Diese Lehre ist in dem zentralen theologischen Konzilsdokument der dogmatischen Konstitution Dei verbum über die göttliche Offenbarung präzise umrissen:
»Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu