Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
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Wie diese Gedanken zum Pfingstereignis bereits andeuten, hat der evangelikale Katholizismus nichts Leichtes, Einfaches oder Bequemes an sich. Der kulturelle Katholizismus der Vergangenheit war »bequem«, weil er sich nahtlos in die umgebende Kultur einfügte und fast keine Reibung zwischen dem Leben »in der Kirche« und dem Leben »in der Welt« verursachte. Der evangelikale Katholizismus jedoch ist eine Gegenkultur, die die umgebende öffentliche Kultur zu bekehren sucht, indem sie die Wahrheit verkündet, im Geist und in der Wahrheit anbetet und eine menschlichere Lebensart vorlebt. Der evangelikale Katholizismus will sich nicht »arrangieren«: Er will bekehren.
Niemand sollte denken, das sei nicht schwer. Auch der Katholizismus der Gegenreformation war nicht immer nur einfach, denn er hatte es mit der fortwährenden Rastlosigkeit des menschlichen Herzens und dem uralten Aufruhr der menschlichen Leidenschaften zu tun. Doch in einer prämodernen Welt, deren Autoritäten als selbstverständlich galten, war die religiöse Autorität der Kirche als einer Zuchtmeisterin des menschlichen Eigensinns durchaus selbstverständlich. Die kirchliche Autorität war, um es in Peter Bergers soziologischer Terminologie auszudrücken, eine unangefochtene »Plausibilitätsstruktur«, mit der der Mensch sein Leben ordnen konnte, und die Kirchenzugehörigkeit ging typischerweise in der umgebenden öffentlichen Kultur auf. Allermindestens war die Zugehörigkeit zu dieser Lebensform keinen Frontalangriffen seitens der umgebenden öffentlichen Kultur ausgesetzt.
Das ist in der entwickelten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Fall. Katholiken können nicht durch die New Yorker Madison Avenue oder vergleichbare Straßen in Toronto, Buenos Aires, Paris, Berlin, London, Rom oder Sydney gehen, ohne dass ihre »Plausibilitätsstruktur«, also ihr christliches Verständnis davon, wie die Dinge sind und wie die Dinge sein sollten, an jeder Ecke sinnenfällig angegriffen wird. Wer sich zu den Inhalten des Credo bekennt – sie also nicht nur als seine »persönliche« Wahrheit, sondern als die Wahrheit der Welt betrachtet, wie sie der Mensch gewordene Sohn Gottes offenbart hat –, muss in Kauf nehmen, dass man ihn für einen Idioten hält. Wer in der biblischen Moral eine sowohl offenbarte als auch mit dem Verstand erkennbare Wahrheit und außerdem nach wie vor eine Möglichkeit sieht, menschliche Beziehungen zu ordnen, muss damit rechnen, dass man ihn bigott nennt.
Unter diesen Umständen hat der laue Katholizismus keine Zukunft: Sich dem verwandelnden Feuer des Heiligen Geistes auszusetzen, ist nicht länger nur eine Option.
Der evangelikale Katholizismus ist in vielerlei Hinsicht weitaus anspruchsvoller als der gegenreformatorische, katechetisch-devotionale Katholizismus. Er verlangt Priestern und Bischöfen, Ordensleuten und Laien größere Anstrengungen ab; den Feuerzungen kann sich niemand entziehen. Er erfordert eine tiefere religiöse Kultur: Der evangelikale Katholizismus wird, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, nicht von den simplen Formen des Baltimore-Katechismus, sondern von den mystagogischen Reflexionen der alten Jerusalemer Katechesen gespeist, die die Christen dazu einluden, sich tief in die »Mysterien« – gemeint sind die Sakramente – zu versenken und ihr ganzes Leben von ihnen formen zu lassen.13 Von den Laien verlangt der evangelikale Katholizismus einen großzügigen Einsatz ihrer Zeit, damit sie inmitten des überstürzten postmodernen Lebens zu einer tieferen Christusbegegnung gelangen, als es ihnen mit nur einer Stunde Gottesdienst pro Woche möglich ist. Von Seelsorgern und Bischöfen verlangt der evangelikale Katholizismus außerdem ein höheres Maß an Stabilität, weil der Aufbau pulsierender evangelikaler Gemeinden Zeit braucht. Und Zeit braucht es auch, die nötigen Beziehungen wachsen zu lassen für jenen Weg der missionarischen Ausformung und Fruchtbarkeit, der, wie der hl. Paulus schreibt, »alles übersteigt« (1 Kor 12,31) – und der schon immer der beschwerlichere Weg gewesen ist.
Der evangelikale Katholizismus, der sich als ein Ergebnis der katholischen Erneuerung Leos XIII. und seiner Nachfolger abzeichnet, wird eine erhöhte Aufmerksamkeit für die sakramentale Vorbereitung und die Sakramentendisziplin erfordern, weil er sich – ganz im Einklang mit den Vorstellungen der klassischen Liturgischen Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts, die Liturgie und Gottesdienst mit christlicher Bildung und Mission und mit dem christlichen Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt verknüpfte – aus den Sakramenten speisen wird. Der evangelikale Katholizismus wird eine sehr viel größere Aufmerksamkeit für die Verkündigung erfordern, als sie in großen Teilen der Kirche in den entwickelten Ländern zu finden ist, weil Mission aus den Sakramenten und aus dem Wort Gottes lebt. Und das wiederum wird eine tiefgreifende Reform der Priesternachwuchsarbeit und der Priesterausbildung erfordern.
Der evangelikale Katholizismus wird es ferner erforderlich machen, dass die Bischöfe ihre Rolle als Werkzeuge der Einheit in der Kirche überdenken: Die Bischöfe der katholischen Zukunft müssen einsehen, dass sie nur dann Werkzeuge der Einheit sein können, wenn sie den Seelen helfen, die befreiende Wahrheit des Evangeliums zu bejahen, was wiederum bedeutet, dass diese Seelen der Falschheit und Sünde entsagen müssen. Deshalb wird der evangelikale Katholizismus es zuweilen erforderlich machen, dass die Kirche an ihren Schnittstellen mit dem öffentlichen Leben fest und unzweideutig »Nein« sagt – wie es die deutschen Bischöfe im bismarckschen Kulturkampf tun mussten (als die Hälfte von ihnen im Gefängnis saß); wie es 1953 die polnischen Bischöfe taten, als sie »Nein« sagten zu den Bestrebungen des polnischen Kommunismus, die Kirche zu einem verlängerten Arm der Partei zu machen (auch dies ein kühnes Eintreten für das Evangelium, das einige Nachfolger der Apostel ins Gefängnis brachte); wie es die Bischöfe der westlichen Welt überall dort tun müssen, wo sich der Staat das Recht anmaßt, das Wesen der Ehe zu verändern oder ganze Gruppen von Menschen aus der gemeinsamen Schutz- und Interessengemeinschaft auszuschließen.
Wenn der evangelikale Katholizismus die Gemeinschaft der Gläubigen aufbaut, dann tut er das nicht um der Gemeinschaft, sondern um der gemeinsamen Teilhabe an den Glaubensgeheimnissen willen. Diese Teilhabe wird ihrerseits zur Quelle der Gnade, aus der die Gemeinschaft schöpft, wenn sie anfängt, die Welt zu bekehren. Die Feuerzungen, die die Kirche formen, werden so zum Feuer der Mission, das die Welt in Brand steckt.
Der evangelikale Katholizismus ruft die ganze Kirche um ihrer missionarischen Sendung willen zur Heiligkeit auf.14
Tiefenwachstum
Der eine oder andere mag einwenden, dass das einfach nicht funktionieren wird: dass eine solche Vision von zutiefst bekehrten, durch und durch katechetisierten, sakramental bereicherten und evangelikal begeisterten Katholiken, die auf den tiefen See der postmodernen Welt hinausfahren, einfach zu anspruchsvoll ist und nur ein beschönigender Name für ein neues katholisches Sektierertum, für eine reinere, aber kleinere Kirche ist. Gewiss, der evangelikale Katholizismus verlangt viel. Und doch war es schon immer genau dieser Ruf nach christlicher Größe – einer Größe aus der Kraft der göttlichen Gnade, die die Herzen emporhebt, und des Heiligen Geistes, der unseren Bemühungen sein Feuer eingießt –, die den katholischen Glauben hat wachsen lassen.
Genau dieser Glaube hatte die heidnische Welt erobert und die frühen Märtyrer in ihren Prüfungen gestärkt.
Genau dieser Glaube, vereint mit einer mystagogischen Sicht auf die Sakramente, hatte Fischhändler und Bäcker in Konstantinopel dazu gebracht, über das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus Christus zu debattieren. Und wenn byzantinische Kaufleute über die hypostatische Union debattieren konnten, dann sollte es doch auch möglich sein, dass die mit Sicherheit am besten ausgebildeten Katholiken der Kirchengeschichte unter Anleitung ihrer Seelsorger, die meisterhafte Prediger sind, die Tiefen dessen erkunden, was sie Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis aussprechen, nämlich dass Jesus, der Herr, »eines Wesens mit dem Vater« ist, und dass sie sodann aus dieser Betrachtung neue Einsicht, Kraft und Leidenschaft für ihre