Gesammelte Werke. Heinrich Mann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann страница 55
Er hielt es für angezeigt, eine Pause zu machen. Sie zog aus ihrem goldenen Beutel den Puderquast, und sie setzte sich. „Ich bin wirklich ganz echauffiert von Ihrem [pg 269]Betragen!“ Aber sie lachte wieder. „Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu zeigen in Ihrer sogenannten Fabrik?“ Er nickte bedeutsam. „Wissen Sie wohl, wo Sie jetzt sitzen?“ – „Na, auf einem Lumpensack.“ – „Aber auf was für einem! In dieser Ecke, hinter den Säcken hier hab’ ich mal einen Arbeiter und ein Mädchen ertappt, wie sie gerade: Sie verstehen. Natürlich sind beide geflogen; und am Abend, jawohl, am selben Abend –“ er hob den Zeigefinger, in seinen Augen entstand ein Schauder höherer Dinge – „haben sie den Kerl totgeschossen, und das Mädchen ist verrückt geworden.“ Guste sprang auf. „War das –? Ach Gott, das war der Arbeiter, der den Wachtposten gereizt hat ...? Also hinter den Säcken haben sie –?“ Ihre Augen gingen über die Säcke, als suchte sie Blut darauf. Sie hatte sich nahe zu Diederich geflüchtet. Plötzlich sahen sie einander in die Augen: darin bewegten sich die gleichen abgründigen Schauder, des Lasters oder des Übersinnlichen. Sie atmeten hörbar einander an. Guste schloß, eine Sekunde lang, die Lider: da plumpsten sie auch schon beide auf die Säcke, rollten, ineinander verwickelt, hinab und durch den dunkeln Raum dahinter, schlugen um sich, keuchten und prusteten, als seien sie dort unten am Ertrinken.
Guste zuerst erreichte wieder das Licht. Den Fuß, an dem er sie festhalten wollte, stieß sie ihm ins Gesicht und sprang heraus, daß es krachte. Als Diederich sich glücklich ihr nachgearbeitet hatte, standen sie da und schnauften. Gustes Busen, Diederichs Bauch gingen beide im Sturm. Sie erlangte vor ihm die Sprache zurück. „Das müssen Sie mit ’ner andern versuchen! Wie komm’ ich überhaupt dazu!“ Immer erbitterter: „Ich hab’ Ihnen doch gesagt, daß es dreihundertfünfzigtausend sind!“ Diederich be[pg 270]wegte die Hand, um auszudrücken, daß er seinen Mißgriff zugebe. Aber Guste schrie auf: „Und wie ich aussehe! Soll ich so vielleicht durch die Stadt gehen?“ Er erschrak aufs neue und lachte ratlos. Sie stampfte auf. „Haben Sie denn keine Bürste?“ Gehorsam machte er sich auf den Weg; Guste rief ihm nach: „Daß gefälligst Ihre Schwestern nichts merken! Sonst reden morgen die Leute von mir!“ Er ging nur bis an das Kontor. Wie er zurückkehrte, saß Guste wieder auf dem Sack, das Gesicht in den Händen, und durch ihre lieben, dicken Finger rannen Tränen. Diederich blieb stehen, hörte ihrem Wimmern zu, und auf einmal begann er auch zu weinen. Mit tröstender Hand bürstete er sie ab. „Es ist doch nichts geschehen“, wiederholte er. Guste stand auf. „Das wäre auch noch schöner“, – und sie musterte ihn mit Ironie. Da faßte auch Diederich Mut. „Ihr Herr Bräutigam braucht es ja nicht zu wissen“, bemerkte er. Und Guste: „Wenn schon!“ – wobei sie sich auf die Lippen biß.
Betroffen durch dies Wort bürstete er schweigend weiter, zuerst sie, dann sich, indes Guste ihre Kleider glättete. „Nun los!“ sagte sie. „Eine Papierfabrik sehe ich mir so bald nicht wieder an.“ Er spähte ihr unter den Hut. „Wer weiß“, sagte er. „Denn daß Sie Ihren Buck lieben, das glaub’ ich Ihnen seit fünf Minuten nicht mehr.“ Schnell rief Guste: „O doch!“ Und ohne Pause fragte sie: „Was bedeutet denn das Zeug hier?“
Er erklärte: „Das ist der Sandfang, durch die Rinne schwemmen wir die Lumpen; Knöpfe und so weiter bleiben zurück, wie Sie sehen. Die Leute haben natürlich wieder nicht aufgeräumt.“ Mit der Schirmspitze stocherte sie in dem Haufen; er setzte hinzu: „Im Jahr behalten wir mehrere Säcke Überbleibsel!“ – „Und was ist das da?“ [pg 271]fragte Guste und griff rasch hin, nach etwas, das glänzte. Diederich riß die Augen auf. „Ein Brillantknopf!“ Sie ließ ihn funkeln. „Echt sogar! Wenn Sie öfter so was finden, ist Ihr Geschäft nicht so übel.“ Diederich sagte zweifelnd: „Den muß ich natürlich abliefern.“ Sie lachte. „An wen denn? Die Abfälle gehören doch Ihnen!“ Er lachte auch. „Na, nicht gerade die Brillanten. Wir werden schon noch ausfindig machen, wer uns das geliefert hat.“ Guste sah ihn von unten an. „Sie sind schön dumm“, sagte sie. Er erwiderte mit Überzeugung: „Nein! Sondern ich bin ein Ehrenmann!“ Darauf hob sie nur die Schultern. Langsam zog sie den linken Handschuh aus und legte sich den Brillanten auf den kleinen Finger. „Er muß als Ring gefaßt werden!“ rief sie aus, wie erleuchtet, betrachtete versunken ihre Hand und seufzte. „Na, sollen ihn andere Leute finden!“ – und unvermutet warf sie den Knopf zurück in die Lumpen. „Sind Sie verrückt?“ Diederich bückte sich, sah ihn nicht gleich und ließ sich schnaufend auf die Knie. In der Hast warf er alles durcheinander. „Gott sei Dank!“ Er hielt ihr den Brillanten hin; aber Guste nahm ihn nicht. „Ich gönne ihn dem Arbeiter, der ihn morgen zuerst sieht. Der steckt ihn ein, darauf können Sie sich verlassen, der ist nicht so dumm.“ – „Ich auch nicht“, erklärte Diederich. „Denn wahrscheinlich wäre der Stein doch weggeworfen worden. Unter solchen Umständen brauche ich es nicht für inkorrekt zu halten –.“ Er legte den Brillanten wieder auf ihren Finger. „Und wenn es auch inkorrekt wäre, er steht Ihnen so gut.“ Guste sagte überrascht: „Wieso? Wollen Sie ihn mir denn schenken?“ Er stammelte: „Sie haben ihn ja gefunden, da muß ich wohl.“ Da jubelte Guste. „Das wird mein schönster Ring!“ – „Warum?“ fragte Diederich, [pg 272]voll banger Hoffnung. Guste sagte ausweichend: „Überhaupt ...“ Und mit einem plötzlichen Blick: „Weil er nichts kostet, wissen Sie.“ Hierüber errötete Diederich, und sie sahen einander blinzelnd in die Augen.
„Ach Herr Gott!“ rief Guste plötzlich. „Es muß schrecklich spät sein. Schon sieben? Was sag’ ich nur meiner Mutter?... Ich weiß, ich sag’ ihr, ich hab’ bei einem Trödler den Brillanten entdeckt, und er hat gedacht, er ist unecht, und hat bloß fünfzig Pfennig verlangt!“ Sie öffnete ihren goldenen Sack und ließ den Knopf hineinfallen. „Also adieu ... Aber Sie sehen aus! Wenigstens müssen Sie sich die Krawatte binden.“ Im Sprechen tat sie es schon selbst. Er fühlte ihre warmen Hände unter seinem Kinn; ihre feuchten, dicken Lippen bewegten sich ganz nahe. Ihm ward heiß, er hielt den Atem zurück. „So“, machte Guste und brach ernstlich auf. „Ich drehe nur das Gas ab“, rief er ihr nach. „Warten Sie doch!“ – „Ich warte schon“, antwortete sie von draußen; – aber als er auf den Hof trat, war sie fort. Verdutzt sperrte er die Fabrik zu und redete laut dabei vor sich hin. „Nun sag’ mir einer, ist das Instinkt oder Berechnung?“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf über das ewige Rätsel der Weiblichkeit, das in Guste verkörpert war.
Vielleicht, so sagte sich Diederich, ging es vorwärts mit Guste, freilich ging es langsam. Die Ereignisse, die sich um den Prozeß gruppierten, hatten ihr Eindruck gemacht, aber noch nicht genug. Auch hörte er nichts mehr von Wulckow. Nach dem so viel versprechenden Schritt des Regierungspräsidenten beim Kriegerverein wartete Diederich unbedingt auf weiteres: eine Heranziehung, eine vertrauliche Verwendung, er wußte nicht wie und was. [pg 273]Der Harmonieball konnte es bringen; warum hatten sonst die Schwestern Rollen bekommen im Stück der Präsidentin. Nur dauerte alles zu lange für Diederichs Tatenlust. Es war eine Zeit voll Unruhe und Drang. Man quoll über von Hoffnungen, Aussichten, Plänen; in jeden Tag, der anfing, hätte man das alles auf einmal ergießen wollen; und wenn er aus war, war er leer geblieben. Ein Trieb nach Bewegung erfaßte Diederich. Mehrmals versäumte er den Stammtisch und ging spazieren, ohne Ziel und ins Freie, was sonst nicht vorkam. Er kehrte dem Mittelpunkt der Stadt den Rücken, stapfte mit dem Schritt eines von Tatkraft schweren Mannes die abendlich leere Meisestraße zu Ende, durchmaß die lange Gäbbelchenstraße, mit den vorstädtischen Gasthäusern, bei denen Fuhrleute ein- oder ausspannten, und kam auch unter der Vogtei vorbei. Dort oben saß, bewacht von einem Gitterfenster und einem Soldaten, der Herr Lauer, der sich dies nicht hatte träumen lassen. „Hochmut kommt vor dem Fall“, dachte Diederich. „Wie man