Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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sah sie wirklich an; er blinzelte, und er überlegte zum erstenmal, nicht ohne Bangen, was diese beiden weiblichen Wesen, die seine Schwestern waren, bisher wohl mit ihrem Leben angefangen hatten ... „Ach was,“ entschied er und richtete sich stramm auf, „euch zieht man einfach die Kandare fester. Wenn ich eine Frau habe, die soll sich wundern!“ Da die Mädchen einander zulächelten, erschrak er, denn er hatte an Guste Daimchen gedacht, und vielleicht dachten auch sie mit ihrem Lächeln an Guste? Zu trauen war keiner. Er sah Guste vor sich, weißblond, mit dem dicken, rosigen Gesicht. Ihre fleischigen Lippen öffneten sich, sie streckte ihm die Zunge heraus. Das hatte vorhin Käthchen Zillich getan, als sie ihm „Adieu Schaf!“ zurief, und Guste, die ihr im Typus so ähnlich war, würde mit ausgestreckter Zunge und in halbbetrunkenem Zustand genau so ausgesehen haben!

      Magda sagte eben: „Käthchen ist schön dumm; aber begreiflich ist es ja, wenn man so lange warten muß und keiner kommt.“

      Sofort griff Emmi ein. „Wen meinst du, bitte? Wenn Käthchen sich mit irgendeinem Kienast begnügt hätte, würde sie wohl auch nicht mehr warten.“

      Magda, im Bewußtsein, die Tatsachen für sich zu haben, blähte einfach ihre Bluse auf und schwieg.

      „Überhaupt“, Emmi warf die Serviette hin und erhob sich. „Wie kannst du das gleich glauben, was die Männer von Käthchen reden. Das ist abscheulich, sollen wir denn alle wehrlos sein gegen ihren Klatsch?“ Empört ließ sie sich in der Ecke nieder und begann zu lesen. Magda hob nur die Schultern – indes Diederich angstvoll und vergeblich nach einem Übergang suchte, um zu fragen, ob vielleicht auch Guste Daimchen –? Bei einer so [pg 280]langen Verlobung –? „Es gibt Situationen,“ äußerte er, „wo es nicht mehr Klatsch ist.“ Da schleuderte Emmi auch das Buch hin.

      „Und wenn schon! Käthchen tut, was sie will! Wir Mädchen haben ebensogut wie ihr das Recht, unsere Individualität auszuleben! Die Männer sollen froh sein, wenn sie uns dann nachher noch kriegen!“

      Diederich stand auf. „Das will ich in meinem Hause nicht hören“, sagte er ernst, und er blitzte Magda so lange an, bis sie nicht mehr lachte.

      Frau Heßling brachte ihm die Zigarre. „Von meinem Diedel weiß ich ganz genau, daß er so eine niemals heiraten wird;“ – sie streichelte ihn tröstend. Er versetzte mit Nachdruck: „Ich kann mir nicht denken, Mutter, daß ein echter deutscher Mann das jemals getan hat.“

      Sie schmeichelte. „O, alle sind nicht so ideal wie mein lieber Sohn. Manche denken materieller und nehmen mit dem Geld auch mal was in den Kauf, worüber die Leute reden.“ Unter seinem gebieterischen Blick schwatzte sie angstvoll weiter. „Zum Beispiel Daimchen. Gott, nun er ist tot, und es kann ihm gleich sein, aber seinerzeit hat man doch viel geredet.“ Jetzt sahen alle drei Kinder sie fordernd an. „Na ja,“ erklärte sie schüchtern. „Das mit Frau Daimchen und dem Herrn Buck. Guste kam doch zu früh.“

      Nach diesem Ausspruch mußte Frau Heßling sich hinter den Ofenschirm zurückziehen, denn alle drei drangen gleichzeitig auf sie ein. „Das ist das Neueste!“ riefen Emmi und Magda. „Also wie war die Geschichte!“ Wogegen Diederich donnernd dem Weiberklatsch Einhalt gebot. „Wenn wir deinen Männerklatsch angehört haben!“ riefen die Schwestern und suchten ihn fortzudrängen von dem Ofenschirm. Die Mutter sah händeringend in das Handge[pg 281]menge. „Ich habe doch nichts gesagt, Kinder! Nur damals sagten es alle, und der Herr Buck hat der Frau Daimchen doch auch die Mitgift geschenkt.“

      „Also daher!“ rief Magda. „So sehen in der Familie Daimchen die Erbonkel aus! Daher die goldenen Taschen!“

      Diederich verteidigte Gustes Erbschaft. „Sie kommt aus Magdeburg!“

      „Und der Bräutigam?“ fragte Emmi. „Kommt der auch aus Magdeburg?“

      Plötzlich verstummten alle und sahen einander an, wie betäubt. Dann kehrte Emmi ganz still auf das Sofa zurück, sie nahm sogar das Buch wieder auf. Magda fing an, den Tisch abzuräumen. Auf den Ofenschirm, hinter dem Frau Heßling sich duckte, schritt Diederich zu. „Siehst du nun, Mutter, wohin es führt, wenn man seine Zunge nicht hütet? Du willst doch wohl nicht behaupten, daß Wolfgang Buck seine eigene Schwester heiratet.“ Wimmernd kam es aus der Tiefe: „Ich kann doch nichts dafür, mein lieber Sohn. Ich dachte schon längst nicht mehr an die alte Geschichte, und es ist ja auch nicht sicher. Kein lebender Mensch weiß mehr etwas.“ Aus ihrem Buch heraus warf Emmi dazwischen: „Der alte Herr Buck wird wohl wissen, wo er jetzt das Geld für seinen Sohn holt.“ Und in das Tischtuch hinein, das sie faltete, sagte Magda: „Es soll manches vorkommen.“ Da hob Diederich die Arme, als habe er die Absicht, den Himmel anzurufen. Rechtzeitig unterdrückte er aber das Entsetzen, das ihn übermannen wollte. „Bin ich denn hier unter Räuber und Mörder gefallen?“ fragte er sachlich und ging in strammer Haltung zur Tür. Dort wandte er sich um. „Ich kann euch natürlich nicht hindern, eure feine Wissenschaft in die Stadt hinauszuposaunen. Was mich betrifft, ich [pg 282]werde erklären, daß ich mit euch nichts mehr zu tun habe. In die Zeitung werde ich es setzen!“ Und er ging ab.

      Er vermied den Ratskeller und bedachte einsam bei Klappsch eine Welt, in der solche Greuel umgingen. Dagegen war mit kommentmäßigem Verhalten freilich nicht aufzukommen. Wer den Bucks ihren schändlichen Raub abjagen wollte, durfte auch vor starken Mitteln nicht zurückschrecken. „Mit gepanzerter Faust“, sagte er ernst in sein Bier hinein; und das Deckelklappen, womit er das vierte Glas herbeirief, klang wie Schwertgeklirr ... Nach einer Weile verlor seine Haltung an Härte; Bedenken kamen. Sein Eingreifen würde immerhin bewirken, daß die ganze Stadt mit den Fingern auf Guste Daimchen zeigte. Kein Mann, der halbwegs Komment hatte, heiratete solch ein Mädchen noch. Diederichs eigenstes Empfinden sagte es ihm, seine eingewurzelte Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus. Schade! Schade um Gustes dreihundertfünfzigtausend Mark, die nun herrenlos und ohne Bestimmung waren. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, ihnen eine zu geben ... Diederich schüttelte den Gedanken mit Entrüstung ab. Er erfüllte nur seine Pflicht! Ein Verbrechen galt es zu verhindern. Das Weib mochte dann sehen, wo es blieb im Kampf der Männer. Was lag an einem dieser Geschöpfe, die ihrerseits, Diederich hatte es erfahren, jedes Verrates fähig waren. Nur noch des fünften Glases bedurfte es, und sein Entschluß stand fest.

      Beim Morgenkaffee bekundete er ein großes Interesse für die Toiletten der Schwestern zum Harmonieball. Zwei Tage nur mehr, und noch nichts fertig! Die Hausschneiderin war so selten zu haben gewesen, sie nähte jetzt bei Bucks, Tietz’, Harnischs und überall. Die große In[pg 283]anspruchnahme dieses Mädchens schien Diederich geradezu mit Bewunderung zu erfüllen. Er erbot sich, selbst hinzugehen und sie, koste es was es wolle, zur Stelle zu schaffen. Nicht ohne Mühe gelang es ihm. Zum zweiten Frühstück begab er sich alsdann so geräuschlos, daß nebenan im Wohnzimmer das Gespräch nicht gestört ward. Gerade erging sich die Hausschneiderin in Anspielungen auf einen Skandal, der bestimmt sei, alles Dagewesene in den Schatten zu stellen. Die Schwestern schienen ganz ahnungslos, und als endlich Namen fielen, zeigten sie sich entsetzt und ungläubig. Frau Heßling beklagte es am lautesten, daß Fräulein Gehritz so etwas auch nur denken könne. Die Schneiderin beteuerte dagegen, in der ganzen Stadt wisse man es schon. Soeben komme sie von der Bürgermeisterin Scheffelweis, deren Mutter geradezu verlangt habe, daß ihr Schwiegersohn einschreite! Dennoch machte es ihr Mühe, die Damen zu überzeugen. Diederich hatte den Vorgang eher umgekehrt erwartet. Er war zufrieden mit den Seinen. Aber hatten denn die Wände tatsächlich Ohren gehabt? Man war zu glauben versucht, daß ein Gerücht, in einem verschlossenen Zimmer ausgebrochen, mit dem Rauch des Ofens hinaus und über die ganze Stadt zog.

      Beruhigt war er trotzdem noch nicht. Er sagte sich, daß das gesunde Empfinden des arbeitenden Volkes unter Umständen ein Faktor sei, den man billigen und sogar benutzen könne. Bis zum Mittagessen ging er um Napoleon Fischer herum: da – es läutete schon – entstand bei der Satiniermaschine ein gellendes Geschrei, und Diederich und der Maschinenmeister, die gleichzeitig hinstürzten, zogen gemeinsam den Arm einer jungen

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