Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Группа авторов

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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus - Группа авторов Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft

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der Autor, der gleichzeitig zum Ich-Erzähler in Gomorra wird, sich als unmittelbar Betroffener und in die Geschehnisse involvierter Zeuge inszeniert, wird insbesondere am Beispiel des letzten Kapitels von Gomorra deutlich, das den Titel „Terra dei fuochi“, „Feuerland“, trägt. In diesem letzten Kapitel geht es um die illegale Beseitigung, unter anderem durch Verbrennen, von Giftmüll in einem Gebiet zwischen den Provinzen Neapel und Caserta.4 Christiane Conrad von Heydendorff sieht in diesem abschließenden Kapitel gleichzeitig das Ziel der persönlichen „Entwicklungsreise“ des Ich-Erzählers, die eng mit der Beschreibung und Erfassung der im Text geschilderten Wirtschaftskriminalität verknüpft ist:

      Es scheint […] durchaus ein Entwicklungsprozess des erzählenden Protagonisten angelegt zu sein, der jedoch an die zyklische Transformation der Waren gekoppelt ist: an die Wirtschaftskriminalität in einem kapitalistischen System. Dieser zyklische Transformationsprozess, der im Romanganzen Geld zu Ware, Ware zu Müll und Müll wiederum zu Geld werden lässt, findet sein erzählerisches Ende im Kapitel „Terra dei fuochi“ [Feuerland] (299).

      Bei dem hier beschriebenen illegalen Wirtschaftskreislauf handelt sich um einen globalen Markt, der weit über Italien hinausreicht und an dem neben den kriminellen Akteuren auch politische und ‚reguläre‘ wirtschaftliche Kräfte beteiligt sind.5 Dieser globale Markt ist – wie bereits im zweiten Kapitel des vorliegenden Beitrags angedeutet – „durch „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens“ (Eickelpasch et al. 9) gekennzeichnet. Am unteren Ende der Ausbeutungskette stehen die Menschen in der durch Giftmüll verseuchten Region Süditaliens, in die sich der Ich-Erzähler im letzten Kapitel von Gomorra begibt. Dieses Kapitel führt beispielhaft sowohl Hintergrundinformationen als auch unmittelbares eigenes körperliches Erleben des Ich-Erzählers zusammen. Ein Beispiel für allgemeine Informationen und Überlegungen zum Wirtschaftssystem, das die illegale Müllverbrennung begünstigt, findet sich am Anfang des Kapitels:

      Mülldeponien können den Wirtschaftskreislauf am besten veranschaulichen. Auf ihnen sammelt sich an, was der Konsum hinterlassen hat, und das ist mehr als nur der Rest dessen, was einmal produziert wurde. Der Süden ist Endstation sämtlicher giftiger Abfälle, sämtlicher wertlosen Überbleibsel, sämtlicher Rückstände aus der Produktion. Der gesamte illegal entsorgte Müll ergibt nach einer Schätzung der Umweltschutzorganisation Legambiente vierzehn Millionen Tonnen, das entspricht einem 14 600 Meter hohen Berg auf einer drei Hektar großen Grundfläche. […] In meiner Vorstellung gleicht diese gewaltige Erhebung den Endlossträngen einer DNA, auf der alles gespeichert ist – Handelsoperationen, die Subtraktionen und Additionen der Finanzexperten, die Profitraten. (Gomorrha 341)6

      Anhand dieses Auszugs lässt sich ein Bezug zu einem der eingangs genannten Aspekte der Kapitalismuskritik herstellen: Die Gefahren für die Umwelt durch das Wirtschaftswachstum werden hier explizit benannt; am Beispiel der durch Zahlen benannten Mengen an illegal entsorgtem Müll, darunter Giftmüll, aus der industriellen Produktion wird veranschaulicht, welche Folgen ein auf Profitmaximierung ausgerichtetes Wirtschaftssystem für die Umwelt haben kann. Zwei Charakteristika von Savianos Erzählweise werden ebenfalls verdeutlicht: Das Aufzählen von Daten erfolgt ohne Quellenangabe; gleichzeitig meldet sich das erzählende Ich mit persönlichen Assoziationen zu Wort, als jemand, der stellvertretend für seine Leserinnen und Leser versucht, den Wirtschaftskreislauf zu verstehen, um Kritik daran üben zu können.

      Eingebettete anekdotische Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann, tragen ebenso wie die eindringliche Assoziation zwischen den anfallenden Müllmengen und der Form eines gigantischen Berges dazu bei, den abstrakten Fakten ein ‚Gesicht‘ zu geben – im folgenden Beispiel das eines Landwirtes, der beim Pflügen seines Feldes auf giftigen Restmüll stößt:

      Eines Tages pflügte ein Bauer seinen Acker, der genau an der Grenze zwischen den Provinzen Neapel und Caserta lag; er hatte das Stück Land gerade erst gekauft. Der Motor seines Traktors ging immer wieder aus, als wäre das Erdreich an diesem Tag ganz besonders fest. Und auf einmal beförderten die Pflugscharen Papier zutage. Geld. Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen. Der Bauer sprang von seinem Traktor und fing an, in fliegender Hast die Fetzen aufzusammeln, als wäre es die versteckte Beute aus einem großen Banküberfall. Aber es waren nur Papiergeldschnipsel, die Farbe ausgebleicht. Geschredderte Banknoten der italienischen Staatsbank. Tonnenweise zu Ballen gepreßte [sic!] Lirescheine, die man aus dem Verkehr gezogen hatte. Die alte italienische Währung, die man hier verscharrt hatte, vergiftete jetzt einen Blumenkohlacker mit Blei. (Gom 344-5)

      Auffällig an diesem Auszug sind Savianos narrative und rhetorische Strategien: Er schmückt die Episode um den Bauern aus Caserta durch plakative Beschreibungen seines Verhaltens aus, zum Beispiel durch die Wendung „in fliegender Hast“,7 so dass der Eindruck entsteht, als Augenzeuge ‚live‘ dabei zu sein. Die Klimax „Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen“8 unterstreicht hyperbolisch die Menge an Geldscheinen, die im Acker vergraben sind. Dass es sich gerade um Banknoten handelt, kann ebenfalls als geschickter rhetorischer Einfall gesehen werden, da Geld und Gewinn Dreh- und Angelpunkt des ganzen illegalen Wirtschaftskreislaufs bilden.

      5. Literarische (fiktionale) Darstellungen als Ergänzung und Weiterführung theoretischer Überlegungen

      Unter Rückbezug auf die eingangs zitierte Frage – „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur?“ – lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die in theoretischen Ausführungen dargelegte Kritik an kapitalistischen Strukturen und ihrem Einfluss insbesondere auf Moralvorstellungen und auf das ökologische System in Nelle mani giuste und Gomorra in konkrete, greifbare Handlungen und Figuren ‚übersetzt‘ wird: Beispiele dafür liefern die zugespitzte Darstellung des Journalisten Carú in Nelle mani giuste oder die anekdotische Episode um den ‚Geldacker‘ in Gomorra.

      Sowohl Nelle mani giuste als auch Gomorra zeigen die Freiheiten und Möglichkeiten gerade der fiktionalen Literatur auf, Kritik an entsprechenden Strukturen eindringlich darzustellen und – im Falle von De Cataldos Roman – die bekannten Fakten neu zu kombinieren und Vermutungen anzustellen, die in einem journalistischen Text, in dem alle Aussagen belegbar sein müssen, nicht möglich wären. Der Kriminalroman eignet sich – dies gilt, wie bereits zu Beginn kurz erwähnt, insbesondere für Italien – als Textsorte, die zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität genutzt werden kann. Durch beispielsweise politisches Engagement oder das Ausüben von Berufen im Bereich der Justiz, mit denen Integrität assoziiert wird, gewinnen auch die Autorinnen und Autoren von ‚Gialli‘ an Glaubwürdigkeit und ethos im Sinne von Korthals Altes, was sich wiederum auf die Rezeption ihrer Werke auswirken kann. Gomorra nimmt in diesem Panorama eine Sonderstellung ein: Es handelt sich hierbei nicht um einen Kriminalroman, sondern um eine Darstellung krimineller Aktivitäten mit hohem Realitätsbezug, die als Dokumentation und investigative journalistische Recherche angelegt ist. Roberto Saviano nennt entsprechend konkrete Namen und Orte, allerdings – und das ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert – ohne Quellenangaben. Für die Darstellung der geschilderten Fälle und Schicksale bedient der Autor sich darüber hinaus narrativer Strategien, die der fiktionalen Literatur entlehnt sind. Warum erscheinen die Schilderungen dennoch glaubwürdig? Es mag auf den ersten Blick paradox scheinen, aber es sind gerade die erwähnten Fiktionalitätsstrategien – vor allem die Schilderungen aus der Sicht des ‚erlebenden Ich‘ Roberto Saviano –, die den Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum Geschehen vermitteln und ein ‚Mitfühlen‘ ermöglichen (vgl. dazu Conrad von Heydendorff 412).

      Festzuhalten ist abschließend, dass es sich in beiden Fällen nicht um eine dezidierte Kritik am Kapitalismus per se handelt: Eine kapitalistische Ordnung der Gesellschaft wird von De Cataldo und Saviano nicht grundsätzlich – zugunsten anderer Staats- und Wirtschaftsformen – in Frage gestellt. Offengelegt werden jedoch

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