Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Группа авторов

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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus - Группа авторов Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft

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wir nach den Mechanismen suchen, die in der modernen Gesellschaft die Prozesse der Beschleunigung und des Wachstums antreiben und miteinander verbinden, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass dabei die grundlegenden Prinzipien und Profitgesetze der kapitalistischen Ökonomie eine wesentliche Rolle spielen. Die simple Identifikation von Zeit und Geld, die wir aus Benjamin Franklins berühmtem Ausspruch kennen, ist in verschiedenen Hinsichten zutreffend. (35)

      Rosa definiert den Kapitalismus also zwingend über sein Zeitdiktat und weist darauf hin – wie bereits viele vor ihm, unter anderem Benjamin Franklin –, dass Zeit und Geld in einer kausalen Beziehungskette zu stehen scheinen: je schneller, desto effizienter, desto profitabler.

      Rosa unterscheidet zwischen einer „technische[n] Beschleunigung“, der „Beschleunigung des sozialen Wandels“ und der „Beschleunigung des Lebenstempos“ (vgl. 20-44). Grundsätzlich gilt jedoch festzuhalten, dass alle drei Formen sich gegenseitig bedingen und gemeinsam, „meist hinter dem Rücken der Akteure, das menschliche Weltverhältnis als solches, also unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und zur Gesellschaft“, verändern (ebd. 60). Dies fasst Rosa folgendermaßen zusammen:

      Die soziale Beschleunigung produziert neue Zeit- und Raumerfahrungen, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind – und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren. (66, Hervorhebung im Orig.)

      Die Beschleunigung verändert also den Zugang zu sich selbst, zu anderen, und letztendlich zur Welt (vgl. ebd. 60).

      Der Kapitalismus ist aufgrund seiner Profitorientierung und der damit einhergehenden Jagd nach Wettbewerbsvorteilen seit jeher durch ein Denken in kurz- und mittelfristigen, und eben nicht langfristigen, Intervallen geprägt – noch mehr so, seit sich die größten Transaktionen auf den internationalen Aktienmärkten vollziehen. Da sich menschliches beziehungsweise organisches Leben aber nicht im selben Maße beschleunigen lässt, spricht Rosa von „[s]chädliche[n] Formen der Desynchronisierung“ (104),4 um das Verhältnis der beiden Zeitstrukturen in Verbindung zu setzen: Der Mensch hat zusehends das Gefühl, ‚nicht mehr hinterher zu kommen‘. Die Folge ist ein entfremdetes, unglückliches und – wie in Bennetts Drama ausführlich diskutiert – menschenunwürdiges Leben. Im Folgenden werde ich daher aufzeigen, dass Bennetts Theaterstück Alleluljah! das Effizienzdiktat des modernen Kapitalismus unter Verweis auf die negativen Folgen für Individuum und Gesellschaft kritisiert. Im Kontext des Krankenhauses und geriatric ward wird besonders deutlich, welch großen zwischenmenschlichen Schaden die neoliberale Beschleunigung und der profitorientierte Effizienzgedanke anrichten können. Dabei arbeitet Alleluljah! nicht nur mit einer simplen Gegenüberstellung von Alt und Jung, sondern zeigt auf, dass im Kapitalismus alle zu Verlierern werden, sobald sie sprichwörtlich ‚nicht mehr mithalten können‘. Besonderes Augenmerk liegt zum Abschluss der Analyse noch auf der Raumhaftigkeit des Theaters, das sich schon als Medium der Zeitfokussierung des Kapitalismus entgegenstellt.

      2. Neoliberale Weltbeziehungen: Allelujah!, Margaret Thatcher und die Privatisierung

      Allelujah! liefert die ‚praktischen‘ Anschauungsbeispiele zu Rosas theoretischen Vorüberlegungen: Das Stück portraitiert eine neoliberale Welt, in der das Leben zunehmend als Geschäftsvorgang begriffen wird und schildert somit Rosas „[s]chädliche Formen der Desynchronisierung“ (104). Dies wird bereits in der allerersten Szene des Dramas deutlich. Mrs Maudsley, Neu-Bewohnerin des Beth und „an old lady in a wheelchair, very decrepit but with a good voice“, leitet das Stück mit den Worten „[i]t was my house“ (3) ein, die sie sogleich noch einmal wiederholt. Noch fehlt den Zuschauern der Kontext, um diese Aussage richtig einzuordnen. Auf die Frage, wem das Haus mittlerweile gehöre, antwortet Mrs Maudsley später, „[t]hieves“ (14), und erweckt damit den Eindruck, das Haus sei ihr von Dieben gestohlen worden. Das Tragikomische dieser Szene entfaltet sich beim Auftritt von Mrs Maudsleys Verwandtschaft, ihrer Tochter Mrs Earnshaw und deren Ehemann Mr Earnshaw. Schnell wird klar, dass Mrs Maudsley mit „thieves“ ihre eigene Tochter und ihren Schwiegersohn meint, die vor sechs Jahren das Haus auf deren Namen überschrieben haben:

      EARNSHAW. Six years ago she made over the house.

      MRS EARNSHAW. Only because she wanted to.

      EARNSHAW. In order to avoid estate duty.

      MRS EARNSHAW. Perfectly legally. The Queen Mother did it. (15)

      Dass der Eigentümerwechsel nicht ganz so einvernehmlich stattgefunden hat, wie Mr und Mrs Earnshaw so nachdrücklich behaupten („she made over the house“, Hervorhebung der Verf.), kann das Publikum aufgrund der übereifrigen Rechtfertigungen des Paares erahnen. Gegenüber Salter geben sich die Eheleute alle Mühe, den Vorgang als harmonisch darzustellen. Mrs Earnshaws ellipsenartiger Einschub, „[o]nly because she wanted to“, soll noch einmal die innerfamiliäre Harmonie unterstreichen, die offenkundig für Mrs Maudsley – sie spricht über ihre Familie als Diebe – bereits längst nicht mehr existiert. Die Überbetonung der Legalität des Vorgangs („[p]erfectly legal[]“) dient lediglich als rhetorisches Feigenblatt: Dem Paar ist scheinbar durchaus bewusst, dass sie zwar rechtlich gesehen nichts falsch gemacht haben, dass sie aber moralisch durchaus belangt werden können. Sie haben Mrs Maudsley, die nach ihren eigenen Angaben topfit ist und einen Appetit „wie ein Scheunentor hat“1 („like a navvy“, 14), in ein Altenheim abgeschoben, in der Hoffnung, Steuern zu sparen. Ihr schlechtes Gewissen kann dann auch der Verweis auf die Queen Mother nicht beruhigen: Auch wenn diese Steuerspar-Praxis vom Königshaus, scheinbar der höchsten gesellschaftlichen Instanz Großbritanniens, betrieben wird, so wird sie deshalb nicht weniger moralisch zweifelhaft. Selbst in der ‚besseren Gesellschaft‘ diktiert kapitalistische Effizienz den Familienalltag.

      Das Interesse der Earnshaws an Mrs Maudsley ist rein finanzieller Natur. Schon die Namensgebung verrät, wie die Loyalitäten liegen: Maudsley gehört nicht zu Earnshaw. Die altersschwache Rollstuhlfahrerin wird längst nicht mehr als Familienmitglied, sondern als Investition angesehen.

      EARNSHAW. She put the house in our name and come September it will be ours free of tax …

      SALTER. I am familiar with the arrangement.

      EARNSHAW. I told you. Everybody does it. Only what I want is reassurance that she’s going to last those three months.

      SALTER. This is a hospital. We make people … last … as long as possible. And once they’ve dealt with the gallstones she may be out quite soon. (15)

      Die vorrangige Sorge der Eheleute gilt nicht der an Gallensteinen erkrankten Mutter und Schwiegermutter, sondern der Erbschaftssteuer, die bei dem frühzeitigen Tod von Mrs Maudsley, das heißt vor September, anfallen würde.2 Während seine Frau noch moralische Skrupel hat, hat Mr Earnshaw keine Hemmungen, mit Verweis auf die scheinbare Allgemeingültigkeit der Steuerspar-Praxis diese Überlegungen laut auszusprechen: „I told you. Everybody does it.“ Für ihn muss Mrs Maudsley noch drei Monate am Leben bleiben, der Rest interessiert den Hausbesitzer wenig.

      Dass Mrs Maudsleys Los kein Einzelschicksal ist, erfährt das Publikum von Dr. Valentine: „unwaged, unpensioned, disendowed of their homes“ (16), so fasst er das Schicksal der Bewohner_innen zusammen, die alle losgelöst von ihren Besitztümern und ihrem alten Leben haltlos dahintreiben. Ihre Stellung als Individuen haben diese Rentner_innen eingebüßt – ihre Familien betrachten sie als Hindernisse auf dem Weg zum Erbe. Entsprechend ungehalten reagieren die Earnshaws auf den – aus ihrer (steuerlichen) Sicht – viel zu frühen Tod der Rentnerin.

      VALENTINE. She slept away. Try to think of it as a blessing.

      EARNSHAW.

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