Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Группа авторов

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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus - Группа авторов Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft

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Einschränkungen in ihrer Mobilität gekennzeichnet: Viele Patient_innen werden in Betten liegend über die Bühne geschoben, oder erleichtern sich das Laufen mithilfe von Gehstöcken. Meistens sitzen sie ohnehin auf Krankenhausstühlen (9).

      In frappierendem Gegensatz zu den Patient_innen steht Colin: Der junge Verwaltungsmitarbeiter „cycles into view, Lycra-clad and on a posh racing bike. Mobile in ear, he talks and rides without holding the handlebars.“ (3) Ausgestattet mit Fahrradtasche, rotfarbenem, eng-anliegendem Trainingsdress, sowie Helm und Sonnenbrille – Trinkflasche inklusive – radelt Colin dynamisch auf die Bühne (vgl. Bridge Theatre). Trotz seiner Aussage, er sei „a hundred and ninety-eight miles“ (3) unterwegs gewesen, wirkt Colins Leistung allerdings nicht besonders beeindruckend. Das grelle, hautenge Sportleroutfit lässt ihn statt sportlich eher lächerlich und aufgesetzt wirken. Mehrere Charaktere kommentieren seine Aufmachung entsprechend und sprechen damit aus, was sich das Publikum bereits denkt: „Got up like that?“ (22) Hier befindet sich Allelujah! irgendwo im „territory between ‚funny‘ and ‚sad‘“ (McKechnie 190) – ein Markenzeichen von Bennetts Stil. Zwar wirkt Colin so, als könne man ihn nicht besonders ernst nehmen; trotzdem hat seine Ankunft für die Bewohner gewichtige Konsequenzen, die ihr Leben gehörig auf den Kopf stellen werden.

      Der Spott der anderen lässt den Beamten allerdings kalt. Wenn der aus London herbei geradelte Colin also erklärt, „I cycle. I’ve won races“ (26), dann stellt er damit nicht nur seinen sportlichen Erfolg unter Beweis. Vielmehr will er seine Fahrradtrophäen als Karriereschritte verstanden wissen: Er hat die Distanz zwischen London und Leeds, zwischen gut bezahltem Ministeriums-Posten und Sohn eines arbeitslosen Minenarbeiters, erfolgreich überwunden. Seine Fahrradausstattung ist Colin nicht peinlich, sondern vielmehr eine Zierde, die er stolz vor sich herträgt. Mit seinem Rennrad ist er buchstäblich Teil der Beschleunigung.

      Darüber hinaus verbindet das Fahrrad die beiden jüngsten Charaktere auf der Station: Colin und Andy, der Praktikant, der eigentlich „irgendetwas mit Computern machen will“ (23). Mit den Worten „do you want a go?“ (22) leiht ihm Colin das Fahrrad. Unweigerlich kommt das Gespräch der beiden auf den abgehängten Norden, in dem es für die beiden Jüngeren keine Chancen zu geben scheint. Oder, wie Joe es ausdrückt: „You, you’re going nowhere. One won’t get you far.“ (66, Hervorhebung der Verf.) Erfolg ist scheinbar an Mobilität, Schnelligkeit, und die Überwindung von Distanzen gebunden („won’t get […] far“). Das Fahrrad wird dabei zum Symbol der Wahl. Es steht für all jene erfolgsversprechenden Eigenschaften – allen voran Mobilität, sowohl im physischen, wie auch im übertragenen Sinne –, die von Nöten sind, um den Norden hinter sich zu lassen: Es symbolisiert quasi ein Fluchtmittel, mit dem man es aus eigener Kraft weit bringen kann.

      London, die Hauptstadt im Süden des Vereinigten Königreiches, ist so ein Ziel, das sich in jedweder Hinsicht (kulturell bedeutender, liberaler, finanziell stärker, politisch mächtiger) vom Norden unterscheidet:

      ANDY. What’s London like?

      COLIN. Beats this.

      ANDY. Clubs and that?

      COLIN. Clubs. Food. Everything. (27)

      Der Norden, Andys und Colins Heimat, ist vor allem durch das Negative gekennzeichnet: Perspektivlosigkeit und eine gewisse konservative Rückschrittlichkeit (zum Beispiel die homophoben Ressentiments) scheinen diesen Teil Großbritanniens aus der Sicht der beiden jungen Charaktere zu charakterisieren. Der gesamtgesellschaftliche Minderwertigkeitskomplex, unter dem der lange Zeit wirtschaftlich und kulturell abgehängte Norden gelitten hat und nach wie vor leidet, erzeugt einen Fluchtreflex bei der jungen Bevölkerung, das heißt, den Wunsch, in den mondänen, fortschrittlichen Süden zu fliehen. Im direkten Vergleich zur Landeshauptstadt zieht Leeds laut Colin nämlich deutlich den Kürzeren („[b]eats this“). Mit „this“ ist aber nicht zwangsläufig nur die Stadt gemeint, sondern im konkreten Fall auch das geriatric ward und seine alten Bewohner_innen. Diese werden von den jüngeren Charakteren zunehmend als Belastung oder als Hindernis verstanden – auch deshalb sind sie das Opfer systematischer Altersdiskriminierung: Wenn Lucille auf die Frage, wieso sie im Beth sei, antwortet, „[w]ell, because I’m old“ (5), dann beschreibt sie damit eine Lebensform, die die Alten aus der Mitte der Gesellschaft verbannt, weil sie alt sind. Abgeschoben in Altersheime und Krankenhäuser (noch ist das gemütliche Beth eine Ausnahme, aber nicht mehr für lange, denn „cosy is lazy. Cosy means stagnation“, 33) gehören die Alten per definitionem nicht mehr zu einer Gesellschaft, die Wert auf Effizienz und gesteigerte Produktivität legt:

      JOE. I’m entitled to respect.

      ANDY. You’re old. You’re entitled to fuck-all. (67)

      Abermals ist es die Figur des Andy, der mit seinem respektlosen, frustrierten Verhalten die Grenzziehung zwischen Alt und Jung vornimmt. Angewidert von seinem Praktikum misshandelt er die Senioren verbal und physisch und benutzt sie als Ventil seiner Aggressionen, aufgestaut aufgrund seiner eigenen abgehängten Lebenssituation.

      4. Die Darstellung des Alters im Stück und das Aufbrechen der Dichotomien

      Bislang bewegt sich Allelujah! mit seiner vermeintlich dichotomen Struktur (Jung versus Alt, Schnell versus Langsam) auf vertrauten und konventionellen Pfaden, die dem öffentlichen Diskurs und vor allem der gängigen Darstellung des Alters entsprechen zu scheinen. Guardian-Journalistin Caroline Baum beschreibt diese Bildsprache in ihrem Artikel „The Ugly Truth about Ageism“ (2018): „You see them in most aged-care facilities, seated on pastel-coloured lounges, being babysat by a TV they are mostly not watching. Some are asleep, some are sedated, some are cognitively impaired.“ Ganz so simpel und vorhersehbar will sich das Stück aber nicht verstanden wissen. Anstatt gängige Bilder und Vorurteile gegenüber dem Alter aufzunehmen, eröffnet es stattdessen eine Perspektive, die die Unterschiede zwischen den jungen und alten Charakteren überwindet. Allelujah! erhebt damit seine Stimme in einem altersdiskriminierenden Diskurs, der vor allem von jungen Menschen geführt wird. Das Drama tritt vehement einem Verständnis entgegen, das ältere Menschen diskriminiert und argumentiert daher gegen ageism, das heißt, Diskriminierung aufgrund des Alters. Als literarisches Werk ist es dafür besonders geeignet, da es sich des Mediums der Sprache bedient – laut dem Schriftsteller Ashton Applewhite also genau das Medium, das die Grundlagen für Abgrenzung erst schafft:

      [I]f we diminish our regard for the senior members of our society verbally, we are likely to do the same when it comes to the way we frame policy – removing their dignity and sense of agency in condescending generalisations that assume vulnerability and dependence instead of resilience and independence. (zit. nach Baum)

      Indem es sich generalisierende Meinungen verbietet, erinnert das Stück vor allem Jüngere daran, dass Senioren_innen nicht als alte Menschen auf die Welt gekommen sind. Wie Baum es formuliert: „[S]eeing them like this, it’s hard to remember they were once young, vital and independent. What’s harder is thinking that it might one day be you.“ Ältere Menschen, so macht das Drama klar, sind den Jungen nur zeitlich etwas voraus: one day, it might be you, wie Baum betont.

      Allelujah! arbeitet ebenfalls viel mit Musik, um die Unterschiede zwischen Jung und Alt zu nivellieren. Ungefähr ein halbes Dutzend Schlager und Rock’n’Roll ‚Oldies‘ der 1950er und 60er Jahre wie Frank Sinatras „Love and Marriage“ oder Little Richards „Good Golly, Miss Molly“ durchbrechen den eintönigen Krankenhausalltag. Immer dann erwachen die Bewohner_innen aus ihrer Stasis und fangen an – gleichsam in ihre Jugend zurückversetzt – zu tanzen, Spaß zu haben, und das Leben zu genießen: „[T]he music transforms, the hospital dissolves, and the old people rise from their chairs“. Die Transformation der Alten, „as if young again“, reichert die Darstellung der Senioren um eine weitere, bislang wenig gezeigte

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