Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus. Группа авторов

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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus - Группа авторов Mannheimer Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft

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      The old people sing from song sheets. A few seconds into the number, the music transforms, the hospital dissolves, and the old people rise from their chairs, throw their sticks away, and dance as if young again. By the end of the number, they are old again, in their chairs. (9)

      Allelujah! unterstreicht die Komplexität des Alters, das nicht auf seine negativen Aspekte reduziert werden darf. Stattdessen betont das Stück, wie ‚jung‘ Rentner_innen sein können, wenn sie nicht als Last oder Beeinträchtigung wahrgenommen werden. Dabei geben die schnellen Rock’n’Roll-Lieder den Rentner_innen nicht nur ihre Jugend, sondern auch ihre Beweglichkeit und damit Gesundheit wieder. Tanzend bewegen sie sich „als ob sie noch jung wären“ (58):

      MUSIC: ‚Good Golly, Miss Molly‘ (Little Richard).

      The old people – in a memory of their younger selves – perform a full-out song and dance. (58)

      Allelujah! ändert die Rezeption des Alterungsprozesses: Durch die Lieder gleichermaßen aus ihrer Lethargie und buchstäblich aus ihren Rollstühlen gerissen, problematisieren die tanzenden Senioren die vorher geschaffene Dichotomie. Auch sie waren einmal jung, beziehungsweise sind es immer noch, wenn man ihnen das menschenwürdige Leben erlaubt, das Zeit lässt für „song and dance“. Indem das Drama immer wieder aufzeigt, wie viel Lebensmut die Senior_innen trotz des kargen Krankenhausalltags beim Singen und Tanzen in sich tragen, plädiert es für eine Rekontextualisierung des Alters, das vorher vom Effizienz- und Schnelligkeitsdiktat des Neoliberalismus negativ konnotiert wurde. Allelujah! zeigt, dass Alter und verminderte Lebensqualität nicht zusammengehören, wohl aber Kapitalismus und verminderte Lebensqualität.

      Diese Technik durchzieht das gesamte Stück: Gleich zu Beginn des zweiten Aktes erinnert Allelujah! das Publikum daran, dass Altern ein universeller Prozess ist, indem es die Bewohner in ihre Jugendtage zurückversetzt. Die Sing- und Tanzeinlagen „allow this doddery gaggle to evoke remembered happiness and the inner spirit that remains unquelled by infirmity, even if some of them are still tethered to their drip stands“ (Taylor). Musik eröffnet also die Möglichkeit zu Empathie und lädt jüngere Charaktere wie Publikum gleichermaßen dazu ein, die Patienten nicht als lästige Pflicht anzusehen, sondern als Menschen mit Vergangenheit, Erinnerungen und vor allem Würde. Musik, so die vielleicht etwas kitschige Zusammenfassung, überwindet Altersgrenzen und Diskriminierung. Sogar Gilchrist, die normalerweise strengstens dagegen ist, den Aufenthalt der Bewohner_innen durch Freizeitangebote wie Chöre zu verschönern, kann sich dem nicht entziehen:

       Gilchrist plugs her iPhone into some speakers. It plays dance music as she levers Joe out of his chair.

      MUSIC: ‚Love and Marriage‘.

       [Joe] dances with her in a beautiful olde-tyme dancing way. As they dance –

      COLIN. He can’t walk but he can dance still.

      GILCHRIST. It happens. (27)

      Die Kombination aus Sinatras Hit von 1954 und der Technologie aus dem 21. Jahrhundert, Gilchrists iPhone, symbolisiert eine Symbiose aus Alt und Jung, Langsam und Schnell: Mp3-Format und Schallplatte existieren genauso nebeneinander wie Rentner_innen und junge Erwachsene. Losgelöst von der Beschleunigung der Moderne schaffen es die beiden Seiten recht schnell und unkompliziert, sich einander anzunähern (im wortwörtlichen Sinne beim Tanzen) und Verständnis füreinander zu erlangen.

      Allelujah! geht noch einen Schritt weiter in der Negierung der Unterschiede zwischen den beiden Personengruppen. Der Arzt Valentine adressiert in seinem letzten Monolog das Publikum und kommentiert die biologischen Gemeinsamkeiten von Jung und Alt:

      Through observing and even participating in colorectal surgery, I was struck by something extraordinary, namely that the flesh of the bowel of mature and even aged patients was no different from that of the flesh of a child or a young person. Unique among every department of the body, the bowel does not seem to age. So these ancient and faltering persons, carry within their venerable bodies a remnant of their infant selves, part of them still young and ageless. (86)

      Allelujah! betont damit abermals die Gleichheit von Jung und Alt. Ähnlich wie die Musik, fungiert der Darm hier als ein Symbol der Jugendlichkeit: „[T]he bowel does not seem to age“. Valentine buchstabiert die Implikationen für seine Zuhörer noch einmal explizit aus, wenn er sagt, „these ancient and faltering persons, carry within their venerable bodies a remnant of their infant selves“. Das Wort „remnant“, Relikt oder Überbleibsel, ist in diesem Kontext von besonderer Bedeutung: Alte Menschen sind nicht einfach nur alt; der Körper mag „ancient“ und „faltering“ sein, aber ihr Innerstes – konkret der Darm – ist „still young and ageless“ und entzieht sich damit den Klassifikationsmustern, welche gesellschaftlich angewendet werden, um Menschen zu kategorisieren.

      Darüber hinaus besteht das Drama nicht nur darauf, die Senior_innen als gleichwertige, das heißt, im Innersten – um bei der Darm-Symbolik zu bleiben – junge Charaktere zu lesen. Vielmehr zeigt es an einer Stelle dezidiert auf, dass der Kapitalismus und sein Effizienz-Diktat gemeinsame und universelle Probleme schaffen, die alle Charaktere unabhängig von Alter, Erfolg, Herkunft und Geschlecht gleichermaßen betreffen. Valentine, beispielsweise, hat mit dem Migrationsamt zu kämpfen, das ihn lediglich als Arbeitskraft sieht, aber ansonsten baldmöglich wieder abschieben möchte: „I see you had a student visa but stayed on. Well, at least you didn’t come in with a truckload of oranges. So, what makes you think you would be an asset to this country?“ (80) Und auch Schwester Pinkney erfährt, was es heißt, nicht mehr gebraucht zu werden: „Nurse Pinkney was right when she said Tadcaster was going to be heaven. Only she never got to be an angel there, a casualty of the downsizing that privatisation inevitably involves.“ (84) Vom Effizienzgedanken wegrationalisiert, spürt Schwester Pinkney, eigentlich eine Figur, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit zu den Gewinnern gehören müsste, am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, zum Opfer von Beschleunigung und Rationalisierung zu werden. Sie wird im neuen Krankenhaus nicht mehr gebraucht. Der freie Markt, so das Stück, ist also nicht in eine Gewinner- und Verliererseite eingeteilt, die sich auf der einen Seite durch dynamische, wettbewerbsorientierte, junge Arbeitnehmer_innen und auf der anderen Seite durch langsame, sozialistisch-geprägte, arbeitslose Rentner_innen auszeichnet; vielmehr, so betont Allelujah!, produziert die kapitalistische Beschleunigung der Arbeitsprozesse Verlierer auf allen Seiten.

      5. Gegen das Primat der Zeit: Die Betonung des (Theater-)Raumes

      In seinen Überlegungen vertritt Hartmut Rosa die Überzeugung, dass der Raum als solcher innerhalb des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung verliert, denn die Zeit und nicht der Ort, bestimmt Gewinn und Umsatz – etwa beispielsweise bei der Entwicklung neuer Güter, beim Kauf von Aktien oder bei der Lieferung von Produkten:

      [D]er Raum [verliert] für die meisten sozialen Handlungen und Interaktionen seine vorrangige Bedeutung. Dies wird durch die Tatsache eher bestätigt als widerlegt, dass gerade aufgrund dieser lokalen und räumlichen ‚materiellen‘ Bedeutungslosigkeit den sekundären Qualitäten des Raums mehr Bedeutung zukommt. Da es zum Beispiel nicht länger ökonomisch ins Gewicht fällt, wo ein Call Center eröffnet wird, kann man es genauso gut in einer ökologisch attraktiven Umwelt ansiedeln. (Rosa 61)

      Dieser kapitalistischen Akzentuierung der Zeitachse setzt Allelujah! eine Neu-Gewichtung des Raumes gegenüber: Theater als sozialer Treffpunkt von Publikum und Schauspieler_innen ist explizit im Raum verhaftet. Anders als Romane, Lyrik, Filme und Fernsehserien zeichnet sich das Drama vor allem durch seine Raumhaftigkeit aus, die laut Erika Fischer-Lichte erst durch die Aufführung performativ entsteht: Räumlichkeit „existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung,

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