Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur Schopenhauer
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Ein viel auffallenderer, aber auch viel seltenerer Zug in der menschlichen Natur, welcher jenes Verlangen, die ewige Gerechtigkeit in das Gebiet der Erfahrung, d.i. der Individuation, zu ziehn, ausspricht, und dabei zugleich ein gefühltes Bewußtseyn andeutet, daß, wie ich es oben ausdrückte, der Wille zum Leben das große Trauer- und Lustspiel auf eigene Kosten aufführt, und daß der selbe und eine Wille in allen Erscheinungen lebt, ein solcher Zug, sage ich, ist folgen der. Wir sehn bisweilen einen Menschen über ein großes Unbild, das er erfahren, ja vielleicht nur als Zeuge erlebt hat, so tief empört werden, daß er sein eigenes Leben, mit Ueberlegung und ohne Rettung, daran setzt, um Rache an dem Ausüber jenes Frevels zu nehmen. Wir sehn ihn etwan einen mächtigen Unterdrücker Jahre lang aufsuchen, endlich ihn morden und dann selbst auf dem Schafott sterben, wie er vorhergesehn, ja oft gar nicht zu vermeiden suchte, indem sein Leben nur noch als Mittel zur Rache Werth für ihn behalten hatte. – Besonders unter den Spaniern finden sich solche Beispiele.90 Wenn wir nun den Geist jener Vergeltungssucht genau betrachten, so finden wir sie sehr verschieden von der gemeinen Rache, die das erlittene Leid durch den Anblick des verursachten mildern will: ja, wir finden, daß was sie bezweckt nicht sowohl Rache als Strafe genannt zu werden verdient: denn in ihr liegt eigentlich die Absicht einer Wirkung auf die Zukunft, durch das Beispiel, und zwar hier ohne allen eigennützigen Zweck, weder für das rächende Individuum, denn es geht dabei unter, noch für eine Gesellschaft, die durch Gesetze sich Sicherheit schafft: denn jene Strafe wird vom Einzelnen, nicht vom Staat, noch zur Erfüllung eines Gesetzes vollzogen, vielmehr trifft sie immer eine That, die der Staat nicht strafen wollte oder konnte und deren Strafe er mißbilligt. Mir scheint es, daß der Unwille, welcher einen solchen Menschen so weit über die Gränzen aller Selbstliebe hinaus treibt, aus dem tiefsten Bewußtsein entspringt, daß er der ganze Wille zum Leben, der in allen Wesen, durch alle Zeiten erscheint, selbst ist, dem daher die fernste Zukunft wie die Gegenwart auf gleiche Weise angehört und nicht gleichgültig seyn kann: diesen Willen bejahend, verlangte er jedoch, daß in dem Schauspiel, welches sein Wesen darstellt, kein so ungeheures Unbild je wieder erscheine, und will, durch das Beispiel einer Rache, gegen welche es keine Wehrmauer giebt, da Todesfurcht den Rächer nicht abschreckt, jeden künftigenFrevler schrecken. Der Wille zum Leben, obwohl sich noch bejahend, hängt hier nicht mehr an der einzelnen Erscheinung, dem Individuo, sondern umfaßt die Idee des Menschen und will ihre Erscheinung rein erhalten von solchem Ungeheuern, empörenden Unbild. Es ist ein seltener, bedeutungsvoller, ja erhabener Charakterzug, durch welchen der Einzelne sich opfert, indem er sich zum Arm der ewigen Gerechtigkeit zu machen strebt, deren eigentliches Wesen er noch verkennt.
§ 65
Durch alle bisherigen Betrachtungen über das menschliche Handeln haben wir die letzte vorbereitet und uns die Aufgabe sehr erleichtert, die eigentliche ethische Bedeutsamkeit des Handelns, welche man im Leben durch die Worte gut und böse bezeichnet und sich dadurch vollkommen verständigt, zu abstrakter und philosophischer Deutlichkeit zu erheben und als Glied unsers Hauptgedankens nachzuweisen.
Ich will aber zuvörderst jene Begriffe gut und böse, welche von den philosophischen Schriftstellern unserer Tage, höchst wunderlicherweise, als einfache, also keiner Analyse fähige Begriffe behandelt werden, auf ihre eigentliche Bedeutung zurückführen; damit man nicht etwan in einem undeutlichen Wahn befangen bleibe, daß sie mehr enthalten, als wirklich der Fall ist, und an und für sich schon alles hier Nöthige besagten. Dies kann ich thun, weil ich selbst so wenig gesonnen bin, in der Ethik hinter dem Worte Gut einen Versteck zu suchen, als ich solchen früher hinter den Worten Schön und Wahr gesucht habe, um dann etwan durch ein angehängtes »heit«, das heut zu Tage eine besondere semnotês haben und dadurch in mehreren Fällen aushelfen soll, und durch eine feierliche Miene glauben zu machen, ich hätte durch Aussprechung solcher Worte mehr gethan, als drei sehr weite und abstrakte, folglich gar nicht inhaltsreiche Begriffe bezeichnen, welche sehr verschiedenen Ursprung und Bedeutung haben. Wem in der That, der sich mit den Schriften unserer Tage bekannt gemacht hat, sind nicht jene drei Worte, auf so treffliche Dinge sie ursprünglich auch weisen, doch endlich zum Ekel geworden, nachdem er tausend Mal sehn mußte, wie jeder zum Denken Unfähigste nur glaubt, mit weitem Munde und der Miene eines begeisterten Schaafes, jene drei Worte vorbringen zu dürfen, um große Weisheit geredet zu haben?
Die Erklärung des Begriffes wahr ist schon in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, Kap. 5, § 29 ff., gegeben. Der Inhalt des Begriffs schön hat durch unser ganzes drittes Buch zum ersten Mal seine eigentliche Erklärung gefunden. Jetzt wollen wir den Begriff gut auf seine Bedeutung zurückführen, was mit sehr Wenigem geschehn kann. Dieser Begriff ist wesentlich relativ und bezeichnet die Angemessenheit eines Objekts zu irgend einer bestimmten Bestrebung des Willens. Also Alles, was dem Willen in irgend einer seiner Aeußerungen zusagt, seinen Zweck erfüllt, das wird durch den Begriff gut gedacht, so verschieden es auch im Uebrigen seyn mag. Darum sagen wir gutes Essen, gute Wege, gutes Wetter, gute Waffen, gute Vorbedeutung u.s.w., kurz, nennen Alles gut, was gerade so ist, wie wir es eben wollen; daher auch dem Einen gut seyn kann, was dem Andern gerade das Gegentheil davon ist. Der Begriff des Guten zerfällt in zwei Unterarten: nämlich die der unmittelbar gegenwärtigen und die der nur mittelbaren, auf die Zukunft gehenden Befriedigung des jedesmaligen Willens: d.h. das Angenehme und das Nützliche. – Der Begriff des Gegentheils wird, so lange von nichterkennenden Wesen die Rede ist, durch das Wort schlecht, seltener und abstrakter durch Uebel ausgedrückt, welches also alles dem jedesmaligen Streben des Willens nicht Zusagende bezeichnet. Wie alle andern Wesen, die in Beziehung zum Willen treten können, hat man nun auch Menschen, die den gerade gewollten Zwecken günstig, förderlich, befreundet waren, gut genannt, in der selben Bedeutung und immer mit Beibehaltung des Relativen, welches sich z.B. in der Redensart zeigt: »Dieser ist mir gut, dir aber nicht.« Diejenigen aber, deren Charakter es mit sich brachte, überhaupt die fremden Willensbestrebungen als solche nicht zu hindern, vielmehr zu befördern, die also durchgängig hülfreich, wohlwollend, freundlich, wohlthätig waren, sind, wegen dieser Relation ihrer Handlungsweise zum Willen Anderer überhaupt, gute Menschen genannt worden. Den entgegengesetzten Begriff bezeichnet man im Deutschen und seit etwan hundert Jahren auch im Französischen, bei erkennenden Wesen (Thieren und Menschen) durch ein anderes Wort als bei erkenntnißlosen, nämlich durch böse, méchant, während in fast allen andern Sprachen dieser Unterschied nicht Statt findet und kakos, malus, cattivo, bad von Menschen wie von leblosen Dingen gebraucht werden, welche den Zwecken eines bestimmten individuellen Willens entgegen sind. Also ganz und gar vom passiven Theil des Guten ausgegangen,