Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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»Leider noch immer keine Chance«, mußte ich immer wieder nach Hause berichten. Kein Wunder, daß Vater mißtrauisch wurde. Er fürchtete, daß ich in ein liederliches Leben geriete. Es waren aber wirklich schlechte Zeiten für Seefahrer und besonders für so junge wie ich. Ich suchte von früh bis abends. Ich versprach den Heuerbasen eine halbe Monatsgage, wenn sie mir irgendwelchen Schiffsposten verschafften. Sogar vor dem allgemeinen Arbeitsamt stellte ich mich an, um als Nietenwärmer oder Hafenarbeiter anzukommen. Dabei lebte ich ganz einfach, trug keinen Kragen, sondern nur einen blauweiß gestreiften Jumper zu einer alten Hose und eine Schirmmütze. Allerdings zechte ich nachts mit meinen Leidensgefährten von Krahl. Wir verkehrten in einer kleinen Bierkneipe am Kraienkamp gegenüber der Michaeliskirche. Die Witwe Seidler führte dieses Kellerlokal. Sie hatte zwei erwachsene Töchter, Alwine und Meta, und ein kleines Töchterchen Ella. In Meta verliebte ich mich mehr und mehr. Es ergaben sich Romane und dramatische Szenen. Unter uns Krahlsbrüdern war ein Zwerg, ein ehemaliger Jockey, namens Seppl. Den ohrfeigte ich, weil er Meta eine Hure nannte. Ich hatte aber in derselben Zeit mit Seppls Frau ein heimliches Techtelmechtel. Meta wurde von vielen von uns verehrt. Zu der Rechtschaffenheit, die allen Seidlers eigen war, hatte sie eine besonders sichere, aber scharmante Schroffheit. Auch war sie die Intelligenteste in der Familie. Mein Hauptrivale war der Böhme Irak, ein hübscher und schmissiger Kerl. Mit ihm hatte ich erbitterte Schlägereien um Meta.
Der Sachse Rienchen. Er saß über einen Brief gebeugt, und ich merkte ihm an, daß er Kummer hatte.
»Rienchen, was fehlt dir?«
»Nichts.« Er wehrte ab, wischte sich verstohlen die Augen.
»Sag' mir's doch. Hast du schlechte Nachricht?«
Er seufzte. »Laß mich! – Ihr werdet mich bald los sein.«
»Rienchen, was ist geschehen?«
»Geschehen?« er lachte bitter und zerknitterte den Brief. »Mutter tot, Schwester tot. – Was kümmert's euch.«
Ich tröstete ihn leise. Bald erfuhr ich, daß kein wahres Wort an seiner Erzählung war, daß er vielmehr öfters solche Komödien spielte, um bei uns Rührung zu erwecken. Wir gewöhnten ihm das rasch ab, indem wir ihm Messer, Revolver und Stricke hinlegten und ihm zuredeten, doch endlich seinem geplagten Leben ein Ende zu machen.
Meine besten Kameraden waren Handloß, Schumacher und ein Schlesier, dessen Vater Dienstmann in Görlitz war. Schumacher war der einzige von uns, der so reichlich Geld von Hause erhielt, daß er gelegentlich ein Faß Bier auflegen konnte. Das taten sonst anstandshalber aber meist nur auf Pump diejenigen, die Chance fanden. Jedesmal ein seltenes, aber dann eben für alle erfreuliches Ereignis. Für gewöhnlich machten wir nur bescheidene Zechen.
Die gutmütigen Seidlers, die an unseren Schicksalen von ganzem Herzen teilnahmen, borgten und schenkten so viel, daß sie darüber nie auf einen grünen Zweig kamen. Abgesehen von unserem Stammtisch verkehrten dort nur noch Bürstenbinder und ein paar Hafenarbeiter. Ab und zu kam eine viel Geld verstreuende Bordellwirtin aus der Nachbarschaft.
Diesen an sich ganz begreiflichen Wirtshausverkehr mit meinen Kameraden und die damit verbundenen Ausgaben verschwieg ich törichterweise meinen Eltern. Ja, ich schrieb ihnen sogar immer wieder, sie möchten nun kein Geld mehr senden, ich käme mit dem zuletzt Gesandten noch lange aus. Dann aber erhielten sie plötzlich Rechnungen von Krahl und Kerner und fragten erstaunt an, ob das seine Richtigkeit hätte. Kurz, ich berichtete nicht aufrichtig. Und so glaubten meine Eltern wohl auch nicht recht daran, daß ich mir tagsüber soviel Mühe gab, um endlich unabhängig von ihnen zu sein.
Ich hatte De Freitas wieder aufgesucht. Ein etwas peinlicher Gang, den ich dann vielmals wiederholen mußte. Weil der Herr mich für andermal bestellte, andermal aber verreist, ein drittes Mal in einer Sitzung und beim viertenmal nicht anwesend war. Schließlich versprach er oder versprachen andere Leute, an die ich weiterempfohlen wurde, mich auf der »Potosi« unterzubringen, dem größten Segelschiff der Welt. Ich möchte mich nur noch ein wenig gedulden. Warum? Das schilderten sie mir einleuchtend, und ich hinterließ meine Adresse.
Da war also ein Lichtblick. Trotzdem lief ich weiter meine gewohnten Bettelwege zu Heuerbasen und Heuerbüros und auf eingelaufene Schiffe. Auch an Bord der »Lutetia«, die noch im Hafen lag, fragte ich an, ob man mich nach England zurücknehmen wollte. Die Arbeitsverhältnisse für Seeleute sollten ja überall günstiger sein als in Deutschland. Aber »Lutetia« wies mich ab. Vielleicht war man auf der Herfahrt mit meinen Leistungen nicht zufrieden gewesen. Dann machte ich die Adresse einer entfremdeten Verwandten von Mutter ausfindig, nur weil ich dachte, daß sie Beziehungen zu Seefahrtskreisen hätte. Ergab auch nichts als Zeitverlust. In der Potosi-Angelegenheit rührte sich nichts. Sonst überall Lichtblicke, Vertröstungen, Hinhaltungen. Nichts Positives. Es lag nun so, daß ich mich mehr vor meinem Vater schämte, als daß dieser mir Vorwürfe machte. Ich wurde ganz deprimiert. Als auch der November ergebnislos verstrichen war, hielt ich's nicht mehr länger aus.
Ich verdingte mich in einer Schlangenbude auf dem Hamburger Dom (Jahrmarkt). Eine Riesenschlange wurde dort vorgeführt. Fünf Männer in Matrosenanzügen trugen sie auf den Schultern. Der kleinste davon und der einzige, wirkliche Seemann war ich. Ich trug das Schwanzende. Herr Malferteiner, der Budenbesitzer, im dunkeln Anzug und mit Lackschuhen, erklärte mit durchdringender Stimme: »Die Rriesenschlange! – Bo – a – – constrrictorr! – Ihre Heimat ist Südamerika. Der Biß derselben ist nicht gefährlich, da dieselbe nicht giftig ist. Menschen und Tieren wird sie gefährlich durch ihre gräßliche Gewalt und durch die Kraft ihrer Muskeln. Denn sie ringt in der Freiheit mit dem Löwen und dem Tiger und besitzt auch die Kraft, dem größten und stärksten Büffelochsen mit ihren Muskeln alle Knochen zu zerbrechen, sobald sie ihn umschlungen hat.« (Pause zum Staunen.) »Gefüttert wird sie alle drei bis vier Wochen mit lebenden Schweinen, auch Schaflämmern oder Ziegenlämmern.« (Pause. Dann mit gehobener Stimme.) »Tausend Mark bietet die Direktion jedem Besucher Prämie, der beweisen könnte oder würde, wo er schon jemals in Europa ein zweites Exemplar dieser Riesenschlange gesehen hätte.« (Es brauchte nur jemand den Deckel der großen, grünen Kiste in unserer Bude aufzuheben. Da hätte er ein gleichgroßes zweites Exemplar dieser Boa entdeckt, das dort zur Reserve aufbewahrt wurde.) »Herrschaften, welche zu spät kamen und nicht alles gesehen haben, können ruhig noch bleiben bis zur nächsten Vorstellung. Vorsichtig! Schnell!«
Die letzten Worte richtete er, wie erschrocken, an uns Matrosen. Wir mußten nun hin und her schwankend so tun, als würde die schwere Schlange wild. In Wirklichkeit war sie leicht und ganz apathisch, beinahe leblos. Unter lauten Kommandos, wie »Alle Mann« – »Deckel auf« wurde sie nun in einen zweiten Kasten zwischen Decken gelegt. Die Vorstellung war zu Ende. Magnus, der älteste von uns Angestellten, beantwortete übertrieben oder unwahr die Fragen der sich langsam entfernenden Zuschauer.
»Wie lang ist sie?«
»Vierundzwanzig Fuß!«
»Wieviel wiegt sie?«
»295