Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Am nächsten Tage zeigte ich dem Briefträger nochmals das leere Kuvert und schenkte ihm fünfzig Kopeken. Am übernächsten Tag hatte er den Brief zu dem Kuvert gefunden. Graf Yorck von Wartenburg fragte nach meinen Vorkenntnissen und erbat Zeugnisse. Die ließ ich mir aus München zuschicken. Auch Seebach stellte mir ein Empfehlungsschreiben aus.
Ich hungerte und fror. Wanjka und Fanjka veranlaßten Freunde, mir diskret zu helfen. So kam ich in den Besitz eines kostbaren Schlittenpelzes aus Persianerfell. Du lieber Gott, ich zog ihn morgens zum Holzhacken und Heizen, zum Aufwaschen und Scheuern an. Er war so herrlich warm.
Ein Redakteur einer deutschen Zeitung in Riga forderte mich auf, doch einmal ein Feuilleton für sein Blatt zu schreiben, irgend etwas aus meinem Leben in Bilderlingshof. Das feuerte mich an. Ich verfaßte eine Skizze »Von Schuster Pix bis zum Nordpol«. Zwei Tage arbeitete ich daran. Der Redakteur schrieb mir, daß es ihm sehr leid täte, mir nur acht Rubel dafür zahlen zu können, denn er sehe wohl, daß ich seinen Auftrag viel zu schwer genommen und statt einer journalistischen Plauderei ein Dichtwerk geliefert hätte.
Acht Rubel waren viel für mich, aber sie schmolzen in meinen Schulden rasch dahin. Ich konnte die lettische Waschfrau noch immer nicht bezahlen. Auch nicht, als ich aus Deutschland einen Zwanzigmarkschein erhielt. Denn den Arzt, den einzigen Deutschen in der Gegend, der mir den Schein hätte umwechseln können, traf ich am Vormittag nicht an. Mittags schickte die Waschfrau fünf lettische Männer mit Knüppeln in mein Haus. Ich sah sie kommen, versteckte mich und öffnete nicht, solange sie auch läuteten. Sie aber ersahen aus den Schneespuren, daß ich ins Haus gegangen war und es nicht wieder verlassen hatte. Sie fluchten wild und versuchten, die Tür mit Fußtritten einzuschlagen. Ich hörte es zitternd in bösem Gewissen. Die Tür war solid, und die Letten zogen endlich ab.
Ich wartete auf die zweihundert Mark von Seewald, preßte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe, spähte nach der Straße. Ließ den Faustwalzer spielen, ging stundenlang in der Veranda auf und ab und kam mit meinen Grübeleien auf mißtrauische Gedanken, die dem redlichen Seewald sehr unrecht taten.
Die Korrespondenz mit dem Grafen Yorck spann sich weiter. Wieder traf ein leeres Kuvert von ihm ein. Diesmal gab ich dem Briefträger sofort fünfzig Kopeken, und er zog sofort ganz schamlos den fehlenden Brief hervor. Ich nahm ihm das nicht einmal übel. Durch die Post nur konnte meine Rettung aus dieser tödlichen Einsamkeit kommen.
Sonntags wurde keine Post ausgetragen. Da ging ich zu Fuß an den Eisenbahnschienen entlang, drei Werst weit bis Majorenhof. Vor dem Posthaus traf ich den jungen Postgehilfen an, wie er nasse Holzstückchen aus dem Schnee auflas. Da er deutsch sprach, fragte ich, was sein Tun bedeute. Holz war doch so billig im Baltenland, daß man sogar die Lokomotiven mit Buchenholz heizte. Der Gehilfe klärte mich auf. Selbstverständlich stand seinem höheren Chef ein Geldfonds für Heizmaterial zur Verfügung. Selbstverständlich unterschlug dieser Chef dieses Geld. Ich ging in Gedanken den Weg von oben nach unten bis zu dem leeren Kuvert.
Nichts hatte ich mehr zum Versetzen. Mit Mühe brachte ich so viel Geld zusammen, daß ich nach Riga fahren konnte, um Wanjka nochmals anzupumpen, was mir nachgerade sehr peinlich wurde. Ich traf sie nicht an. So irrte ich den ganzen Nachmittag trostlos in den Straßen umher. Abends begegnete mit Wanjka. Sie war in Begleitung ihres Freundes. Ich genierte mich, mein Anliegen vorzubringen und tat auch so, als wäre ich eben angekommen und gar nicht in Wanjkas Wohnung gewesen. Wanjka aber unterbrach mich erstaunt und sagte laut vor dem Baron: »Warum lügst du denn? Ich weiß doch, daß du bei mir warst. Wahrscheinlich brauchst du Geld. Das kannst du doch offen sagen.«
Wanjka war ein Mädchen, ist heute eine Frau und nach wie vor eine treue Freundin von mir, der ich nicht eine einzige Lüge nachweisen könnte, nicht mal eine Lüge aus Höflichkeit oder Rücksicht.
Ich wartete auf die zweihundert Mark, auf die ich doch ein ehrliches Anrecht hatte.
Ich depeschierte an Seewald, lustig, dann dringend, dann drohend.
Ein vorwurfsvoller und doch gütig beherrschter Brief meines Vaters traf ein. Fanjka, die selbst nichts mehr für mich tun konnte, hatte heimlich an ihn geschrieben, meine Lage geschildert und ihm nahegelegt, mir doch das Geld für die Rückfahrt nach Deutschland zu schicken. Vater teilte mir mit, daß er seinen Rigenser Freund, den Bankier und Dichter Julius Meyer, beauftragt hätte, mir das Reisegeld auszuzahlen. Fanjka hatte in bester Absicht gehandelt, aber ich war sehr aufgebracht darüber, daß sie das hinter meinem Rücken getan hatte. Ich sandte meinem Vater ausführliche Erklärungen über meine Lage, erwähnte die zweihundert Mark vom Piper-Verlag und meine sichere Aussicht auf eine Stellung als Bibliothekar. Ich dankte ihm für das Geld und versprach, es ihm pünktlich zurückzuzahlen.
Dann suchte ich Herrn Meyer auf. »Der durstige Meyer« wurde er genannt, weil er einen guten Tropfen liebte. Er hatte auch gute Gedichte geschrieben. Sehr freundlich und wohltuend humorvoll nahm er mich auf und führte mich sogar abends in einen Klub ein, der sich Krakenbank nannte. Bei jeder Sitzung mußte ein Mitglied seinen Geburtstag feiern, ganz gleich, ob das zeitlich stimmte oder nicht, und bekam dann eine ehrenvolle Halskette leihweise umgehängt. Das Vereinslokal lag unter der Erde, die Wände waren mit Seeungeheuern bemalt. Auf einem hohen Bord standen heilig bewahrt die Stammkrüge verstorbener Mitglieder.
Die Briefe des Grafen Yorck waren von ausgewähltester Höflichkeit. Ich bemühte mich, es ihm gleichzutun und redete ihn in meinen Antworten mit Erlaucht und in der dritten Person an, obwohl ich herausgebracht hatte, daß ihm das gar nicht zukam.
Ich wurde als Bibliothekar au pair bei ihm engagiert.
Klein-Oels
Es war am 4. Februar 1912, da mich eine Equipage auf dem Bahnhof in Ohlau abholte und nach dem Schloß Klein-Oels rollte. Ein Diener brachte mich auf mein Zimmer, das letzte Zimmer im rechten Flügel des hufeisenförmigen Baues. Alles, was ich sah, war so vornehm, daß mich die Frage beklommen machte, wie ich mich dem anpassen könnte.
Abend war's. Der Diener servierte mir eine Platte, auf der vier Schnitzel à discrétion lagen. Die aß ich alle vier auf.
Der Hauslehrer Otto besuchte mich, gab mir die ersten Anweisungen. Zu den Mahlzeiten erschiene man stets in Schwarz.
Am nächsten Morgen führte mich Herr Otto umher. Es war alles da, was zu einem feudalen und kulturvollen Schloß gehörte. Die Bibliothek war auf fünf Räume verteilt. Herr Otto brachte mich zum Rentmeister Dannenberg, der lang und knochig war und eine mollige Frau hatte. Dann zum Privatsekretär Neugebauer. Und dann in eine Wirtschaft im Dorf, wo sich außer dem Wirt Lorke noch der Kantor Panke und eine lustige Gesellschaft zum Wellfleischessen eingefunden hatte.
Der oberste Diener, der alte Hausmeister Tietze, erkundigte sich nach meinen Wünschen, führte mich ins Gewölbe, erklärte mir, daß jener Teil des Schlosses ein ehemaliges Malteserkloster wäre, usw. Dann meldete er mich der Gräfin. Sie war eine geborene von Berlichingen, war in ihrer Statur eine Germaniafigur, aber von frauenhafter Sanftmut und stillen Wesens.
In der Treppenhalle des Schlosses fielen mir große Porträtgemälde auf. Überall hingen wundervolle Stiche und Reliefs. Neben meiner Zimmertür stand der alte Voltaire als lebensgroße Plastik. Er sah für mich aus wie der Papst, wenn er mal muß. Oder wie Seelchens Mutter.
Ich aß mit der Baroneß Berlichingen, mit der französischen Mamsell, mit dem Kinderfräulein und mit den vielen Kindern des Grafen; es waren ihrer