Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Man behandelte mich ausgesucht höflich, obwohl ich mich so natürlich wie möglich gab. Zwei Leute erzählten ihre Erlebnisse aus dem Russisch-Japanischen Krieg. Ein Jude spielte den Dolmetscher. Dann wurde auf einer holprigen Wiese hinterm Gärtnerhaus getanzt. Wilde Polkas bis morgens um zwei Uhr. Da ich zwischendurch viele Wodkas trank, wurde ich betrunken. Einige Nimmermüde wollten mich noch weiter mitnehmen. Aber am Kreuzweg kaufte ich mich mit einem Rubel von ihnen los. Als ich einschlief, klang mir's noch fernher ins Ohr: »Ligo – Li – g – o –!«
Es wurde eine Art Kabarett auf dem Müffelberg arrangiert, wobei ich mich rege mit allerlei Darbietungen und Rezitationen beteiligte, auch Mandoline spielte. Von Ingeborg war ein lustiges Plakat entworfen. Sie hatte in München Malerei studiert. Sie erzählte aus dieser Zeit sehr amüsant, wie ihre Pensionsmutter einen Pensionär bei Gericht verklagt hatte, weil er immer die Haut vom Pudding abschöpfte.
Die Mittagstafel war immer ganz offiziell. Geschulte Diener und Serviermädchen warteten auf. Es herrschte ein etwas zurückhaltender, dennoch vergnügter Ton. Ich lernte bald die einzelnen Kurgäste kennen. Eine Exzellenz soundso und deren Gesellschafterin Fräulein von Brockhusen, Herr Weiß aus Riga, ein Fräulein Benois. Eine alte Dame, die ihre Augen kaum so weit aufmachte, um sich selber sehen zu können. Die hatte ich heimlich »Das schlafende Jahrhundert« getauft. Der Name blieb.
Nach Tisch leistete ich manchmal noch der blinden Mrs. Clark Gesellschaft, aus Mitleid, und um mein Englisch aufzufrischen. Ferner war ein spitzbärtiger russischer Marineoffizier an der Tafel.
Das Gespräch drehte sich selten in meinem Beisein um Kunst. Man erzählte lieber anderes. Die Krebspest hatte die ganze Gegend heimgesucht. Die Düna hatte nachts eine Leiche an Land getrieben. Der Baron wollte die Scherereien vermeiden, die mit solchem Fund verbunden waren. Er ließ die Leiche wieder in den Strom stoßen. Sie landete auf der anderen Seite in einer livländischen Baronei. Dort stieß man sie wieder ab, und nun landete sie wieder auf kurländischem Gebiet, irgendwo.
Ich zog mit Biegemann und Fräulein Brockhusen einem Jungen zuliebe auf Käferjagd aus.
Ich half der Hausdame, Fräulein Dieckhoff, Fliegen töten. Mit der Gießkanne und heißem Wasser machten wir das.
Ich schrieb eine kurze Skizze »Gepolsterte Kutscher und Rettiche«.
Einmal am Tage wurde die Post vom Kutscher zehn Werst weit aus dem Orte Friedrichstadt geholt. Friedrichstadt war nur von Juden bewohnt.
Zu den wenigen, die etwas freiere Meinung hatten, zählten Olga und Wera, zwei zarte russische Studentinnen. Wera Iwanowna hatte ein Herzleiden. Mit ihr unternahm ich nachts im Regen einen langen Ausflug, und wir führten ernste, lange Gespräche, obwohl Wera ebensowenig Deutsch verstand wie ich Russisch. Abends war Tanz. Alles erschien im Frack und Balltoilette. Die Baronin saß am Flügel, und der Baron kommandierte französisch sehr gewandt eine Quadrille.
Ich las Bismarcks Briefe an seine Frau. Dann gab mir Biegemann das Buch »Bismarck in der Karikatur des Kladderadatsch«. Nebenher trieb ich etwas Geschichte und Geographie.
Die Baronin riet mir, die Heilbäder auszunutzen, die sie im Hause hatte, und mich täglich von den zwei angestellten Finnländerinnen massieren zu lassen. Massieren ließ ich mich nicht. Ich genierte mich. Ich badete täglich in der Düna, obwohl das Ufer schilfig und unsauber war.
Der Jude Abramowitsch führte einen Kaufladen in Halswigshof. Er verkaufte an die Letten billigen Kram für die nötigsten Bedürfnisse. Zu ihm kamen auch die Flößer, wenn sie wegen Sturm die Fahrt unterbrechen mußten. Denn die Düna konnte sehr böse sein. Sie trugen Wasserstiefel und dicke Schafspelze und kauften bei Abramowitsch Kringel. Dann lagerten sie sich am Ufer, zündeten nach herkömmlichem Strandrecht ein Reisigfeuer an und kochten Tee. Die Düna barg schon bei ruhigem Wetter tückische Stromschnellen und Strudel.
Ich traf den Fischer Mathison, wie er Angeln einzog. »Fische nicht gebissen«, sagte er, »Mond scheint. Fische schlafen, wenn Mond scheint.« Mathison war schon nahe den Fünfzigern, und nun mußte er zehn Werst weit zu Fuß gehen, um von der russischen Polizei eine Prügelstrafe zu empfangen. Weil man ihn kürzlich in Trunkenheit erwischt hatte. Mathison war auch ein geschickter Tischler und baute Kanus.
Ich hatte eine Sanatoriumsballade verfaßt. Die trug ich mit Erfolg bei einer der engeren Gesellschaften vor, die bald in Ingeborgs Wohnung, bald im Hause des Barons oder im Kontor oder sonstwo improvisiert wurden.
Es wurde mir zum Sport, jeden Mittag mit einer anderen Krawatte zu erscheinen und dazu eine entsprechende Blume im Knopfloch zu tragen. Auch half ich Ingeborg gern, wenn sie die Blumen für die Mittagstafel wählte und arrangierte. In dem üppigen Garten wuchs alles, was Land und Zeit zu geben vermochten. Obst und Beeren konnte ich pflücken, soviel mir behagte. Manchmal zupfte ich mir ein frisches Salatblatt ab, bestrich es mit Butter und salzte es. Das schmeckte gut.
Ich fuhr Herrn und Frau Agricola im Segelboot spazieren.
Auf Anregung Ingeborgs wurde ein Wohltätigkeitsfest für ein achtjähriges, musikalisch begabtes Judenmädchen gegeben. Wir maskierten uns alle. Ingeborg erschien als Sektflasche mit wechselnden Etiketts. Mathison hatte das Kostüm geschickt aus Pappe gefertigt. Der russische Doktor war als Dame verkleidet, das heißt, er hatte alles, was er an Damenkleidern erwischen konnte, unlogisch übereinander angezogen. Nun war er so dick, daß er auf zwei Sesseln sitzen mußte. Jeder hatte sich etwas Kurioses ausgedacht. Der Kaufmann Behrends aus Petersburg brachte einen Toast auf das Haus Nolcken aus. Das jüdische Wunderkind spielte Mendelssohn und »Die Spieluhr«. Die finnischen Masseusen Marta und Hilja führten einen Nationaltanz auf. Es tat sich was. Und die Baronin schenkte dem Judenkind noch extra ein dressiertes Huhn.
In solch reicher Freiheit und süßem Nichtstun spannen und verstrickten sich natürlich allerlei Liebesfäden. Ich überraschte Wera, als sie auf der Treppe den hinkenden Studenten Werschisloff küßte. Fräulein Kronmann, die mir russischen Unterricht gab, fing an, mit »Ja wosch lublu«. Auch Fräulein Matern zeichnete mich aus. Und am Springbrunnen belauschte ich – –.
Ich fuhr mit der Baronin in einem zweirädrigen Wagen nach Friedrichstadt. Tipsi jagte vor uns her und biß einen lettischen Bauern ins Bein. Der forderte eine neue Hose. Aber wir verstanden kein Lettisch und rasten weiter. Es gab auf dem Weg ein paar schwierige Passagen. Ich hatte Angst, daß der Wagen umkippte. Ich hatte auch jedesmal Angst, wenn der Jagdwagen auf der Fähre über die Düna gerudert wurde. Die Fähre war nicht viel breiter als der Wagen und hatte nur eine zerbrechliche Barriere. Die Pferde scheuten vor dem Wellenschlag. Es lag die Gefahr nahe, daß sie Wagen und Menschen in die Tiefe rissen. Ich glaube, daß es mir sonst nicht an Courage fehlte. Aber wenn es sich um Pferde handelte, zeigte ich mich immer ängstlich und feig.
Die Baronin lachte mich aus. Sie selbst war von Jugend auf mit Pferden vertraut. Wenn ein Pferd erkrankte oder wenn eine Kuh kalbte, ging sie selbst in die Ställe und legte mit Hand an.
Ich schenkte Fräulein Dieckhoff zum Geburtstag ein aus Kletten geformtes »D«, das mein Porträt umrahmte. Ich hatte ja in dem reichen Hause nichts anderes zu schenken als solche kleinen erdachten Scherze, ein bißchen Unterhaltung und Zuvorkommenheit.
Frau Dora Kurs hatte mir fünf Rubel gesandt, auch erwartete ich ein Honorar vom »März«, der meine Geschichte »Durch das Schlüsselloch eines Lebens« akzeptiert hatte. Meinen Geburtstag feierte ich verschwiegen.
In irgendwelcher Gesellschaft ging ich mit dem Fischer Irber zum Forellenfang. Das Ergebnis von dreizehn Forellen überreichte ich der