Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Als ich mit Biegemann aus dem berühmten Frühlokal Donisl kam, sah ich einen Mann mit erhobenem Stock auf ihn eindringen. Ich kam zuvor und hieb mit meinem Stock auf den Kerl ein. Seebach beteiligte sich nicht, sondern schrie nur immerzu und suchte mich zurückzureißen. Nun hörte ich, was er schrie: »Halt ein! Du schlägst meinen liebsten Freund tot!« Der andere, ein Studienfreund von Seebach, hatte diesen in einer Fechterstellung begrüßen wollen. Bindet die Klingen.
Bruno Frank kam häufig in den »Simpl«. Er ging dann nach Polizeistunde noch mit mir zum Hauptbahnhof, wo man im Wartesaal Kaffee trinken konnte, wenn man pro forma eine Fahrkarte löste. Bruno Frank imponierte mir sehr. Er benahm sich in allem ausgesucht ästhetisch und war als Schriftsteller bereits so arriviert, daß er für die Zeitschrift »Simplizissimus« schrieb, was wir Jungen alle anstrebten. Außerdem bewohnte er im besten Hotel ein teures Zimmer mit vornehmem Bad und verkehrte im Hause Thomas Mann. Über diesen schrieb er verschiedentlich.
Frank sagte mir, es wäre sein höchster Wunsch, einmal ein Dichter wie Thomas Mann zu werden. Jene langen, anregenden Nachtstunden auf dem Hauptbahnhof waren frohe und herzliche.
Die Zeitschrift »Licht und Schatten« schrieb eine Preiskonkurrenz aus für die beste ernste oder heitere Novelle. Thomas Mann war einer der Preisrichter. Bruno Frank war überzeugt davon, daß er den Ersten Preis erhielte. Dann traf ich Willy Seidel. Der war überzeugt davon, daß er den Ersten Preis erhielte.
Ich verbrachte drei Tage in Oberammergau, sah mir die Festspiele an. Der Lazarus hatte mich im »Simpl« dazu eingeladen. Ich wohnte bei ihm. Es war die letzte Vorstellung der Saison. Kaum war sie vorüber, so bot der Ort einen drolligen Anblick. Überall auf den Dorfstraßen klapperten Scheren. Die Oberammergauer ließen sich Bärte und Langhaare scheren.
Im Oktober schloß der Verlag R. Piper & Co. einen Buchvertrag mit mir.
Ich hatte kleine Ulkreime geschrieben, zu denen der Maler Seewald entzückende Illustrationen zeichnete. Nach diesen Verschen von mir ist dann später so häufig gesagt worden, ich lehnte mich an Morgenstern an. Aber damals, als ich sie schrieb, hatte ich noch keine Zeile von Morgenstern gelesen.
Um diese Zeit wurde auch mein Schiffsjungentagebuch angenommen. Der Verlag »Die Lese« feierte gerade ein Jubiläum und gab seinen Autoren ein Frühstück in einer Privatvilla. Auch ich als jüngster Autor war dazu geladen. Ich gab mich sehr würdig in dieser Gesellschaft. Bis ich an einer chinesischen Decke hängen blieb und dabei acht Gläser Champagner auf dem Flügel umstieß.
In der »Lese« war ein kleines Tippmädchen angestellt, namens Marietta. Dies zierliche Ding trat nachdem im »Simpl« in Erscheinung, indem sie dort Gedichte hersagte und mit einer scharmanten Frechheit aller Herzen gewann.
Ich wurde sehr krank, mußte eine Drüsenoperation durchmachen, lag längere Zeit ganz lebensmüde zu Bett. Bruno Frank besuchte mich, brachte mir weiße Rosen. Seebach, Dr. Milk und andere besuchten mich, brachten mir Wein, Zigaretten und Bücher. Und Seelchen pflegte mich aufopfernd. Als ich endlich wieder in den »Simpl« konnte, wurde ich dort herzlich empfangen. Man hatte mich vermißt. Das tat mir wohl. Auch daß mir Scharf erzählte, ihm und Dauthendey hätte meine kleine Skizze »Sie steht doch still« gut gefallen.
Man nahm mich schon ein wenig ernster. Die »Woche« trat an mich heran, bat um eine neue Arbeit. Aber die Freude über solche kleinen Fortschritte hielt nie lange an. Denn andererseits wuchs auch mein Gefühl für Kritik und Selbstkritik.
Biegemann verreiste, um sich mit einer Baroneß Nolcken zu verloben, der auch ich einmal auf einem Bal paré vorgestellt war.
Ich sah Ibsens »Nordische Heerfahrt«, aber das Stück gefiel mir nicht. Ich las alles, was Bruno Frank schrieb oder was er mir empfahl, z.B. eine Novelle seines Freundes Willy Speyer »Wie wir einst so glücklich waren«. Die schien mir nun zwar reichlich stark von Thomas Mann beeinflußt, aber ich beneidete doch Frank wie Speyer um solche Erfolge. Ich fühlte mich weit hinter diesen soviel jüngeren Menschen zurück. Sie hatten die Bildung, die Zeit zum Schreiben. Sie hatten Geld. Geld schien mir auf einmal der Schlüssel für alles. Geld zum Gesundwerden. Geld zum Arbeitenkönnen. Geld zum Lernen. Geld zum Reisen. Ich fing an, Lotterie zu spielen. Ohne den geringsten Erfolg. Als ich eines Nachts in eine Roulette spielende Gesellschaft geriet und mich mit einem kleinen Einsatz beteiligte, gewann ich hundert Mark. Die mußte mir ein reicher Herr auszahlen. Er vergaß es aber, und ich wagte aus Respekt nie ihn zu mahnen.
Sehr oft gingen wir, Seebach, ich, die baltischen Freunde und was sich sonst gerade dazufand, noch in später Nacht zu Herrn von Maassen. Der besaß eine behagliche, originelle Wohnung und eine große, interessante Bibliothek, hauptsächlich Bücher der Romantiker.
Maassen stammte aus Hamburg. Er war ein hochgebildeter Mann von mitreißendem Humor, und er bot seinen vielen Bekannten liebenswürdige Gastfreundschaft. Die Burgundergläser klirrten, und der aufgeregte Rabe Jakob durfte mittrinken, wurde auch wie wir, nur noch schneller animiert. Manchmal briet Maassen sogar im »Lucullus« eine Gans. Er und die anderen Herren dort verstanden sehr viel vom Schlemmen und Kochen. Sie waren auch alle einmal in Paris gewesen, hatten alle einmal in Monte Carlo gespielt. So sprach und stritt man auch zumeist über Bücher, Kunst und Gastrosophisches. An die Nächte in diesem geistvollen und ausgelassenen Junggesellenheim denke ich mit dankbarem Vergnügen zurück.
So kam ich dazu, die besten Bücher zu lesen. »Tristram Shandy« – »Gargantua und Pantagruel« – »Simplicius Simplicissimus« – Gontscharows »Oblomow«.
An einem Februarmorgen 1911 ging ich müde und verkatert heim. Da hörte ich meine Tante – mit der ich mich derzeit gerade etwas überworfen hatte – bitterlich schluchzen. Ihre Mutter war nun endlich gestorben.
Ich tröstete Seelchen, so gut ich es konnte. Da die Leiche nach bayrischer Sitte noch am selben Tage aus dem Hause mußte, um dann einen Tag lang öffentlich ausgestellt zu werden, nahm ich der Tante die nötigen Gänge zum Arzt, zur Totenfrau, zur Polizei usw. ab. Als die Leichenfrau die tote Mutter wusch und einkleidete, gab die Leiche einen grausigen Laut von sich, über den Seelchen und ich im Nebenzimmer sehr erschraken. Es gelang mir, die Tante mit einer falschen Erklärung zu beruhigen.
Meine Nerven waren derart herunter, daß ich Halluzinationen hatte und mich morgens fürchtete, durch den dunklen Treppenflur zu gehen.
Dora Kurs sandte mir die »Renaissance« von Gobineau, ein Buch, das mir sehr mißfiel. Vater schenkte mir den Roman »Aus der alten Fabrik« von dem Dänen Bergsöe. Dieses Buch hatte ich schon zehnmal mit Rührung und Genuß gelesen. Es war auch ein Lieblingsbuch meines Vaters.
Ich hörte einen Vortrag des Polarforschers Nordenskiöld. Ich sah Wallenstein und andere Theaterstücke.
Die Zeitschrift »Simplizissimus« lehnte meine Geschichte »Durch das Schlüsselloch eines Lebens« ab, ermutigte mich aber diesmal durch einige beifällige Bemerkungen. Als ich die kurze Erzählung an Thomas Mann einsandte mit der Bitte um Beurteilung, schrieb mir dieser: »Die kleine Sache ist recht artig vorgetragen.«
Ich sehnte mich nach Freiheit. Im »Simpl« hielt ich es nicht mehr aus. Längst schon wollte ich die Nachtstellung dort aufgeben, aber ich war völlig energielos geworden. Außerdem schuldete mir Kathi Kobus noch Geld, und sie verzögerte die Herausgabe, weil sie meine Absicht durchschaute und genau wußte, daß sie mich, wenn ich diesmal fortginge, nicht wieder zurückholen könnte. Endlich redete ich ihr doch ein, daß ich gesundheitlich Erholung brauchte, da gab