Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Die Schwestern führten mich ans Meer, zeigten mir den im Abendlicht rotglühenden Dünenwald, die Kiefern, die ich schon einmal nach einem Gemälde von Wanjka bedichtet hatte. Wanjka war noch in München. Sie hatte geschrieben, wie sehr sie bedauerte, nicht dabei sein zu können, da ich nun ihre Heimat kennenlernte.
Dicht am Strande lag das Wrack eines kleinen Schoners. Den hatte die See im Sturm über mehrere Sandbänke hinweg dorthin geschleudert. Wir erkletterten das Wrack. Und Fanjka erzählte, wie sie schon einmal, gleich nach jenem Sturm auf diesem Schiff gewesen wäre, keinen Menschen angetroffen, aber im Spind noch einen Rollmops gefunden habe.
Am nächsten Tage durchstreifte ich wieder die Stadt nach allen Seiten. Es gab hochelegante Lokale und Menschen. Ich saß einsam glücklich im Wörmannschen Park und hörte russische sentimentale Weisen spielen. Huren und Kokotten sprachen mich an, unglaublich zerlumpte Gestalten bettelten mich an. Ein Weib warf sich vor mir in den Staub, umklammerte meine Beine und rief: »O lieber Herr Baron, schenken Sie mir nur eine Kopeke!«
Es war der 18. Juni 1911 nach russischer Rechnung, als ich in meinem Hotelstübchen Tagebuch schrieb. Bei einem Wachslicht, weil ich für eine Petroleumlampe täglich 25 Kopeken bezahlen sollte. Ich hatte fast kein Geld mehr, war darüber voller Sorgen. Fünf Tage waren in Riga vergangen, ohne daß Seebach etwas von sich hören ließ. Hatte ich die Verabredung mit ihm falsch verstanden? Oder sollte er mir noch zürnen wegen des Streites im Eisenbahnzug? Es fiel mir ein, daß ich zuletzt auch noch mit Seelchen einen Zwist gehabt hatte, der zwar beiderseits versöhnlich beigelegt war. War ich wohl ein zänkischer Mensch?
Im Hinterhof vor meinem Fenster klang eine Ziehharmonika auf. Ich dachte wehmütig an ferne, längst vergangene Tage, da ich auch so ohne Geld dagesessen hatte.
Weil ich nun gar nichts mehr zu essen hatte, ging ich durch mehrere Bordelle und las den Mädchen ihr Schicksal aus den Karten und aus den Handlinien. Wenn man mich heute fragen würde, ob ich das denn konnte und kann, so käme ich in Verlegenheit und müßte eigentlich antworten »ja« und »nein«. Jedenfalls wußte ich, wie erpicht solche Mädchen aufs Wahrsagen sind, und ich verdiente mir einige Rubel.
Endlich rief ich telephonisch das Gut Halswigshof an, um Seebach zu sprechen. Seine künftige Schwiegermutter kam an den Apparat. Sie sprach herzlich und mit einer sympathischen Stimme. Warum ich mich nicht längst gemeldet hätte. Seebach hatte den Namen meines Hotels vergessen. Man erwartete mich sehnlichst. Ich sollte sofort in den Zug steigen und bis Plattform 59 fahren. Dort würde mich ein Wagen abholen. Wo ich denn nun eigentlich wohnte?
»Im Parkhotel.«
»Wo?«
»Im Parkhotel.«
»Wo?« Sie fragte noch mehrmals, und ich schrie immer wieder den Namen »Parkhotel« ins Telephon, hatte immer noch nicht gemerkt, daß dieses Hotel ein berüchtigtes Absteigequartier war.
Fanjka lieh mir Geld. Ich fuhr nach Plattform 59, verpaßte aber infolge eines Irrtums den Nolckenschen Wagen. So reiste ich auf einem Bauernkarren neben einem Butterfaß bis an den Strand der Düna. Unter großen Sprachschwierigkeiten bewog ich einen Fischer, mich über den Strom zu setzen. Ich erreichte Halswigshof, wurde dort aufs freundlichste empfangen.
Das kurländische Gut Halswigshof an der Düna bestand aus einem stattlichen Herrenhaus mit verwirrenden Gängen und Türen und vielen, um einen Park verteilten Nebengebäuden. Der alte Baron lebte nicht mehr. Seine Witwe war eine etwas korpulente, energische und gesellschaftlich ebenso sichere wie umsichtige Dame mit graumeliertem Haar und viel Temperament. Sehr praktisch, sehr fleißig und von einer frauenhaften Güte. Gesund, natürlich und liebenswürdig wie sie war auch die Baronesse, die damals neunzehn Jahre alt sein mochte. Wer sie kannte, der konnte Seebach nur beglückwünschen. Es war zu hoffen, daß sie besonders in bezug aufs Trinken von bestem Einfluß für ihn sein würde. Sie und ihren älteren Bruder, einen langen, schlanken Herrn, hatte ich im Deutschen Theater im Münchner Fasching kennengelernt. Der Bruder war ein raffinierter Lebemann, Landbaron wie Stadtbaron. Er hatte ein wenig Glatze, ein wenig Grau im Haar und sah gut aus.
Jedes Familienmitglied wohnte in einem anderen Haus. Das Gesinde bestand aus lettischen Familien, deren Verhältnis zur Familie Nolcken der Leibeigenschaft sehr nahe kam. Nun war aber Halswigshof nicht nur Baronei und Gut mit großer Landwirtschaft und Viehwirtschaft, sondern auch Sanatorium. Und so wohnten und wechselten dort immer viele zusammengewürfelte, meist russische Familien und Einzelpersonen.
Ich erhielt ein Zimmer im Hause des Gärtners. Der Diener servierte Eier und Heidelbeeren. Zigaretten standen zu Hunderten bereit, echt russische Zigaretten mit kurzem Tabakrohr und langem Pappmundstück. Der schöne Park war übersät mit solchen weggeworfenen Zigarettenresten.
Ich machte dem Baron Nolcken einen Besuch, bekam einen Schnaps »Nolckin« vorgesetzt. Dann gingen wir mit den anderen Nolckens und mit Seebach nach dem Erdbeerpavillon auf den Müffelberg. Obwohl es schon zehn Uhr abends war, leuchtete der Himmel noch in Sonnenglut. Es wurde eine stille Plauderstunde mit Neckereien und Komplimenten um das Liebespaar Ingeborg-Biegemann.
Bis die Baronin ihre Kinder auf die Stirn küßte und sich zurückzog. Auch ich verabschiedete mich, ging auf mein Zimmer, um mein Gepäck auszupacken und Briefe von meinen Eltern zu lesen. Die Gärtnersfamilie schlief bereits. Eine erquickende Ruhe herrschte. Durchs offene Fenster drang schwerer Erdgeruch.
Am andern Morgen frühstückte ich als Nachzügler, weil ich verschlafen hatte. Aber ich konnte tun, was ich wollte. So ging ich an die Düna und bestieg ein Ruderboot. Der Strom war breit und reißend. Große Flöße trieben vorbei mit Strohhütten darauf, und das Holz duftete weithin.
Wie köstlich schmeckte die Freiheit, schmeckten mittags an der großen Tafel Suppe, Schaffleisch und Erdbeeren. Nach Tisch begleitete ich das Brautpaar auf einem Waldspaziergang. Der steife, altersmüde Jagdhund Lord und die freche Terrierhündin Tipsi nahmen daran teil. Hinterher badete ich mit Seebach in der Düna. Ingeborg wollte nicht mittun. Das Wasser war ihr zu reißend und zu schmutzig.
Nach dem Abendessen gingen wir alle nach einer mit Laub geschmückten Scheune. Es war der Tag des Johannisfestes. Das Gesinde huldigte der Baronin. Gruppenweise näherten sich die festlich gekleideten Leute, küßten der Baronin und den Baronen und der Baroneß die Hand und nahmen Geschenke entgegen. Wir alle bekamen Kränze aufgesetzt, die Baronin gleich sechs auf einmal. Dann besangen die Leute in ihrer Sprache die Vorzüge des Nolckenschen Gutes und der Herrschaft im Gegensatz zu anderen Gütern. Und immer kehrte der melancholische, langgezogene Refrain wieder: »Ligo – – Li – – g – o –!«
Danach begann ein tolles Tanzen auf Brettern, die über den Sandboden gelegt waren. Ich wählte mir ein lettisches Schulmädchen, das durch eine Krankheit die Haare verloren hatte, aber einen schönen Kopf und einen sehr anziehenden Trotz besaß. Geige und Ziehharmonika tönten. Ein Faß Bier war aufgelegt.
Ich stahl mich davon. Auf den Feldern brannten Johannisfeuer. Im leuchtenden Orange des Himmels stand ein blasser Mond. Am jenseitigen Ufer der Düna lag ein Boot. Von dort zog traurig über das Wasser das Ligolied.
Der Hunger trieb mich noch spät nach dem Herrenhaus, wo mir die Frau des Verwalters eine Piroge verschaffte.
Zum Nolckenschen Gut gehörten weite Felder, tiefe Laub- und Nadelwälder, Ententeiche, Forellenbäche, ein bunter Garten und leider sehr viel Fliegen. Es gab der Unterhaltung genug. Liegestühle, ein Flügel, ein Billard, Schach und andere Spiele, ein Tennisplatz, ein Segelboot und mehrere Ruderboote standen zur Verfügung. Aber Punkt zehn Uhr war Ruhestunde. Da mußte jeder Lärm verstummen, durfte sich niemand mehr im Park aufhalten. Der Arzt und die Baronin übten strenge Aufsicht.
Nachts