Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Der geniale Hochstapler Peter Anter, für den ich einen Operettentext geschrieben hatte, teilte mir mit, daß mein Text unbrauchbar wäre, und nahm Abschied von mir auf fünf Monate Gefängnis.
Meine Eltern schrieben, Ottilie hätte ein Töchterchen geboren. Im übrigen waren sie besorgt um meine Zukunft. Mutter riet mir ernstlich, ein Handwerk zu ergreifen, etwa Schuster zu werden. Aber ich wollte doch ein Dichter werden. Das war mein glühender Wunsch. Papa hatte irgend was an Paul Heyse auszurichten und sandte mir einen verschlossenen Brief, den ich persönlich Herrn Heyse übergeben sollte. Wahrscheinlich hoffte mein Vater, daß bei dieser Begegnung etwas Günstiges für mich herausspringen könnte.
Herr Heyse wohnte vornehm und sah höchst gelehrt und würdig aus. Ich genierte mich sehr vor ihm. Er ließ mich Platz nehmen und fragte, ob ich seine Dichtungen kennte.
»Ja«, sagte ich, obwohl ich nur das Lied vom schönen Sorrent kannte.
»So? Was kennen Sie zum Beispiel?«
»Wie die Tage so golden verfließen ...«
»Woher kennen Sie das?«
»Wir haben es oft auf See gesungen.«
»Wie haben Sie es gesungen?«
Darauf wußte ich nichts Rechtes zu antworten.
»Singen Sie es einmal vor!« sagte Heyse wie ein Schulmeister.
Ich und singen?! Ich wurde immer verlegener. Aber Heyse ließ nicht locker, und schließlich blieb mir nichts übrig, als das Lied heiser und zitternd vorzutragen. Dann wurde ich entlassen.
Ich dichtete viel, lyrisch und sentimental. So schrieb ich einen Roman »Ihr fremden Kinder«. Den bot ich mehreren Verlagsanstalten an. Niemand wollte ihn drucken. Zuletzt brachte die Zeitschrift »Guckkasten« ein Kapitel daraus.
Im »Simpl« machte ich Paul Linckes Bekanntschaft. Das war der Komponist, der so viele Volkslieder geschaffen hatte, die meine Kindheit begleiteten. Er war übermodern gekleidet und trug auch seinen Schnurrbart in einer extraschicken Fasson. Ferner lernte ich kennen den Lustspieldichter Carl Rößler, Bruno Frank, Hans von Olden, Willy Seidel, den Fabeldichter Etzel und den E. Th. A. Hoffmann-Forscher Carl Georg von Maassen und andere.
Der Verlag Schreiber-Eßlingen brachte im Juni 1910 ein Bilderbuch für Kinder mit Text von mir heraus unter dem Titel »Kleine Wesen«. Gleichzeitig erschien zum erstenmal eine Prosaarbeit von mir in der »Jugend«. Das erfüllte mich mit stolzer Freude. Ich kaufte und verschenkte viele Exemplare dieser Jugendnummer. Ich sah mir immer wieder an, wie sich das gedruckt ausnahm: »Die wilde Miß vom Ohio.« Und ich wurde heimlich aufgeregt, als ich im Kaffeehaus den genialen Maler und geistreichen Menschen Vorel nach jener Jugendnummer greifen sah.
Aber bald sank ich wieder in meine deprimierte Stimmung zurück. Ich fragte bei meiner in Berlin lebenden Tante Liese an, ob sie mir pekuniär ermöglichen wollte, daß ich mein Abitur nachholte, um dann ein Studium zu ergreifen. Denn ich litt bitter darunter, daß fast alle meine Bekannten studiert hatten oder doch gebildeter waren als ich. Der Pflegedienst bei Seeles kranker Mutter einerseits und das Nachtleben im »Simpl« andererseits ließen mir keine Zeit, mich selber weiterzubilden. Tante Liese antwortete abschlägig.
Ich ärgerte mich bis zum Haß über Kathi Kobus und lief ihr einmal davon. Aber sie holte mich wieder. Wenn es ihr darauf ankam, verstand sie es ja so gut, jemanden zu bestricken, und da sie mir dazu fünfzig Pfennige mehr pro Abend bewilligte, blieb ich nun weiter bei ihr.
Ich wurde dem Baron Thilo von Seebach vorgestellt, der ein außergewöhnlich tiefes Wissen auf den meisten geistigen Gebieten besaß. Er stand einem bibliophilen Kreis nahe, der sich um C.G. von Maassen scharte und dem Unold, Graf Klinkowstroem, die Balten Arthur Knüpffer, Helmut von Schulmann, die Gebrüder von Hoerschelmann sowie andere Herren angehörten. Seebach führte den Spitznamen Biegemann.
Der Baron ließ mich anfangs genauso seine geistige und gesellschaftliche Überlegenheit fühlen, wie es die anderen taten, Maassen, wenn er mich auslachte, weil ich nicht wußte, was »prophylaktisch« bedeutete; wie es sogar der gutmütige, aber geistig völlig unbelastete H.v.L. tat, wenn er mir etwa sagte: »Das geht aber nicht, mein Lieber, daß du zum Smoking einen weichen Kragen trägst.« Doch waren sie alle dabei liebenswürdig und gastfrei, und ich lernte von ihnen allen, profitierte insbesondere in bezug auf Geschmack und Manieren. Meine Zuneigung zu Seebach wuchs rasch, führte zu einer innigen Freundschaft.
Am 28. Juli 1910 erschien mein erstes Buch im Hans-Sachs-Verlag in München. Ein dünner Band lyrischer Gedichte. Gedichte, wie sie von Tausenden junger Schwärmer gedichtet werden, aber in ehrlichen Stimmungen mit unbeschreiblicher Leidenschaft geschrieben. Dr. Milk überraschte mich dabei, wie ich die Korrekturbogen in der traulichen Weinstube Bavaria-Osteria mit innerlicher Aufregung durchlas. Er sah mir ins Blatt und sagte nach einiger Zeit, den Finger bedeutungsvoll hebend: »Ich sage Ihnen, Ihre Linie geht nach oben.«
Das Buch hatte ich meinem Vater gewidmet. Der freute sich darüber, wohl schon deswegen, weil damit endlich einmal etwas Positives aus meiner Lebensweise kam. Pekuniär lag das zwar anders. Mein Vertrag war so: Alle Unkosten trägt der Verlag. Bei etwaiger dritter Auflage würde ich Prozente erhalten.
Bei einem öffentlichen Preisausschreiben für das beste Studentenlied ging ich textlich als Sieger hervor mit einem wenig originellen Gedicht »Mit dabei«. Als man in einer zweiten Konkurrenz die Entscheidung über die beste Komposition dazu austrug, war ich zugegen. Über tausend Studenten sangen meinen Text in verschiedenen Kompositionen. Da ich aber zu dieser eindrucksvollen Veranstaltung nicht geladen war, noch mich vordrängen wollte, ließ ich mich ganz allein dort in einem versteckten Winkel nieder. Monate danach wagte ich endlich einmal anzufragen, worin nun eigentlich mein erworbener Erster Preis bestünde. Daraufhin erhielt ich eine Postanweisung über fünf Mark.
Seebach unterrichtete mich jetzt täglich in Latein, Geschichte, Literaturgeschichte und anderem. Er war zehn Jahre älter als ich. Einen Beruf hatte er nicht, hatte er nach seinen Studienjahren wohl nie gehabt. Er stellte selbst die Scherzfrage: »Das Erste ist flüssig, das Zweite ist flüssig und das Ganze ist überflüssig? – Antwort: See – Bach.« Wovon er lebte, wurde mir nie ganz klar. Die ihm ausgezahlten Erbanteile mußten längst verbraucht sein. Wohl beobachtete ich, daß er gelegentlich Inkunabeln oder eine wertvolle Münze verkaufte. Er war als Bibliophile ebenso versiert wie als Numismatiker. Die Miete blieb er jahrelang schuldig. Trotzdem mahnte ihn seine Pensionswirtin nie, blieb unverändert nett zu ihm. Er war immer gediegen angezogen. Sein inneres wie sein äußeres Wesen waren betont aristokratisch. Mir gegenüber lachte er aber darüber, wie er denn überhaupt in mir nur das Menschliche suchte. Er las tagsüber, abends trank er viel billigen Schoppenwein und rauchte billige Zigaretten dazu. Angeheitert beschimpfte er laut rücksichtslos und mit einem scharf geschliffenen Humor den Wirt und die Gäste, wo immer er saß, warf ihnen Feigheit, Ignoranz oder jüdische Gesinnung vor. Mit anderen Leuten bändelte er freundschaftlich an, aber ebenso deutlich und auffallend. Saß er allein in einem Lokal, so forderte er wohl auch plötzlich eine ihm fremde, seriöse Gesellschaft auf, mit ihm das Lied zu singen »Im Nachttopf ist es still und kühl«. Oder er schnüffelte umher und sagte auf einmal mit tiefernster Stimme vor sich hin: »Und immer dieser Blutgeruch!« Das geschah immerhin in einer so komischen Manier, daß ihm kluge Leute nicht so leicht böse wurden. Nur mit den jungen Studenten bekam er immer Händel.
Wenn ich Biegemann mittags besuchte, lag er und blieb er noch