TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann. Группа авторов
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»Die angebliche Drössel …«
»Drossel«, korrigierte sie.
»Drössel«, beharrte er, »ist ein Armer im Geiste, der im Stift Unserer Lieben Frau Öbdach und Bröt gefunden hat.«
»Also bei uns heißt es Obdach und Brot, meinst du nicht auch, Arthi-Darling?!«
Wenigstens ersparte mir der Heilige eine Antwort. »Fröilein«, rief er entrüstet, »im Stift Unserer Lieben Frau gehört der Buchstabe O allein Gott dem Herrn!«
»Pardon«, unterbrach Mimi den Heiligen, »so charmant es gemeint sein mag, ich bin keine Demoiselle. Ich bin Arthis Mutter.«
»Was«, entfuhr es ihm, »seine Mutter sind Sie?!«
»Ja«, hauchte Mimi, »Arthi ist mein Söhn, äh, Sohn.«
Er schien es nicht zu fassen. »Der Bube ist nicht Ihr Bruder?«
»Nein. Aber verwandt sind wir schon, sogar blutsverwandt, nicht wahr, Arthi-Darling?«
Es reichte mir im Angesicht des Heiligen nur zu einem Lächeln, der Mut zu einem Ja ging mir ab.
»Darf ich jetzt zum Wesentlichen kommen«, fragte Mimi gereizt. »Ihr Vogel-, Pardon, Ihr Pfortenmensch konnte uns leider nicht garantieren, dass Arthi einen Kühlschrank zugewiesen bekommt. Arthi ist kein besonders guter Esser, müssen Sie wissen. Deshalb habe ich mir erlaubt, ihm ein paar von seinen Lieblingsspeisen einpacken zu lassen, unter anderem eine Wildpastete.«
Auf so einen hatten sie hier gewartet – Kühlschrank Lieblingsspeise Wildpastete! Madonna, flehte ich, bitte verhindere, dass Mimi ihr Täschchen aufknipst … Und schon begann sie hektisch darin zu wühlen. »Nach Ansicht meines Gatten«, plapperte sie, »pflegen die hochwürdigen Herren dem Himmel ein Rauchopfer darzubringen. Könnte mir vorstellen, dass der Duft dieser Havanna auch dem lieben Gott gefällt.«
Die Augen des Heiligen wurden zu Pingpongbällen, er hob abwehrend seine Pranke und rief: »Weg mit dem Stumpen, Mutter Göldau!«
»Wie Sie meinen«, erwiderte Mimi. »Wir wollten sowieso noch beim Pater Rektor vorbeischauen. Er steht im Ruf, ein gebildeter Herr zu sein und wird eine Havanna zu schätzen wissen. Ist das die Tür nach draußen? Oder landet man hier im Besenschrank?«
Mimi riss eine der vielen Türen auf – und aus dem Schrank glotzte das seekranke Gesicht eines jüngeren Paters. Er saß in seiner Koje an einem Schreibpult, wurde von einem Lämpchen mit grüner Haube beschienen und hielt einen Federkiel in der Rechten. Mimi wollte durch die nächste Tür entkommen, und kaum zu glauben, auch in diesem Schrank steckte ein Pater! Er kniete auf einer Betbank, trug einen Kopfhörer mit dicken runden Ohrenklappen, griff nach dem Türknauf, knallte sich weg. Mimi kicherte. Und mir ging ein Licht auf. Der Vater hatte gegen seine Frau entschieden, Maria Schnee sei die richtige Schule für mich, hier würden sie einen Mann aus mir machen, aber typisch Mimi! – dank ihrem Pannentalent war es ihr gelungen, ein Schlamassel anzurichten, das zu ihren Gunsten ausging. »Arthi-Darling«, flötete sie mit einem entzückenden Lächeln, »würdest du so liebenswürdig sein, mich nach Hause zu begleiten? Ich denke, das Klöster ist nichts für uns.«
Hätte ich Mimi den Arm gegeben ‒ mein Leben wäre anders verlaufen. Aber ich habe sie ziehen lassen, ich wollte hier zum Mann gemacht werden und sah kopfschüttelnd zu, wie die Spitzenabsätze ihrer Stöckelschuhe lauter kleine Us in den Linoleumbelag stachen, winzige Teufelshufe, die wie eine Fährte unter einer der vielen Türen verschwanden. Ich ahnte es ‒ die Narbenspur im Linoleum würde nie mehr verheilen …
»Sie hat mir den Böden versaut«, wimmerte der Heilige.
1 Aus einer entstehenden Novelle. Titel für diese Veröffentlichung.
Nicolas von Passavant
Grundzüge von Thomas Hürlimanns Prosa, vom Debüt »Die Tessinerin« her aufgerollt
Thomas Hürlimann debütierte 1981 mit dem Erzählband »Die Tessinerin«, der sechs zum Teil längere Geschichten enthält. Erschienen ist das Buch als erster Titel des damals neu gegründeten Amman-Verlags, dem Hürlimann als Hausautor treu blieb.1 Wie sich im Rückblick zeigt, haben sich auch Motive und stilistische Eigenschaften der frühen Erzählungen für die mittlerweile 40-jährige Schaffenszeit des Autors als prägend herausgestellt.
Auf diese poetologisch prägenden Aspekte des ersten Buchs werden im Folgenden fünf Schlaglichter geworfen: Es werden Textstellen zur autobiografischen Thematik der Erzählungen und deren erzähltechnische und stilistische Konzeption erläutert. Danach folgt eine Untersuchung der geschilderten Todesszenen und ihrer Stellung im Zusammenhang des Buchs, was abschließend auf in den Texten enthaltene poetologische Kommentare rückbezogen wird.
Autobiografische Reminiszenzen
Der erste Text »Begegnung« beginnt mit einer Parabel, die sich am Ende der Lektüre als sehr bedeutsam herausstellen wird, zunächst aber undurchsichtig bleibt: Einerseits ist von einem »Berggänger« die Rede, der »seine Kraft und die Nahrung, die er im Rucksack trägt, die noch zu bewältigende Linie und einen eventuellen Wetterumschlag immer bedenkend, hinauf zum Gipfel« steigt. Andererseits wird der Gang eines Wanderers beschrieben, der ruhig und beständig schreitet. Dem Bergsteiger bleibe, auf dem Gipfel angekommen, »nur die Umkehr übrig oder der Tod«, der Wanderer dagegen messe seinen Erfolg alleine an seinem Vorankommen im Raum. Von beiden unterschieden sich die »Wahnkranken und Schwachsinnigen«, die »zeitlos und ziellos – ohne auf Körperkräfte achtzugeben – über Land rennen« (»Die Tessinerin«, S. 7).2
Zu welchem Typus der nun auftretende Ich-Erzähler gehört, ist zunächst unklar. Gewisse Ähnlichkeiten scheint er fürs Erste mit Typus drei, dem Wahnsinnigen, zu haben, wenn er sich in der nun einsetzenden Geschichte nach einem heißen Sommertag in einer Westberliner Kneipe einen ziemlichen Rausch antrinkt: Mit steigendem Alkoholpegel werden die Milieubeschreibungen surrealer, irgendwann taucht ein zwielichtiger ›Doktor‹ (S. 17) auf, von dem unklar bleibt, ob der Protagonist und er sich schon länger oder aber überhaupt nicht kennen. Es bricht einiger Tumult aus, der Protagonist betrinkt sich weiter, erbricht sich und macht sich schließlich im Morgengrauen auf den Nachhauseweg.
Wesentlich übersichtlicher geht es im zweiten Text zu, in dem sich Hürlimanns auch späteres Faible für das verfremdende Spiel mit der eigenen Selbst- und Familienbiografie abzeichnet: »Schweizerreise in einem Ford« erzählt