Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke

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Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke

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und einem dunklen, fast südländischen Teint. Seine Augen standen ein wenig eng, die Brauen berührten sich und der Bartschatten widerstand jeder Rasur. Das Haar, schwarz mit dem ersten Grau, trug er nackenlang; Kauppi schnitt es unter einem Topf. Schwarze Haare wuchsen auch auf Chrysanders Händen und bildeten um die Knöchel kleine Wirbel. Seine Finger waren kurz und gedrungen, zwei Nägel der Rechten dafür lang, einer flach gefeilt, der andere spitz, Werkzeuge für unterwegs. In Uppsala hatten ihn manche für einen Bauern gehalten, zumal er sich oft nicht sorgfältig kleidete; die Engländer verwechselten ihn mit einem Priester oder Schlimmerem. Erst hatte er jedermanns «Hochwürden» korrigieren müssen, später sah er verwundert, wie ihn fremde Passanten mit der Geste für Galgenstrick begrüßten oder sogar Kot nach ihm warfen. Erst allmählich begriff er, dass hier ein schwarzer Rock und kurzes Haar Bekenntnisse waren, für allzu viel Frömmigkeit und gegen den Hof mitsamt der französischen Mode. Chrysander wusste, warum er in England publizierte. Dass Gottesfurcht mit Kotwerfen geahndet wurde, befremdete ihn allerdings doch.

      Vor drei Tagen war er in London eingetroffen. Übermorgen würde er die Royal Society besuchen. Eine außerordentliche Sitzung war anberaumt, um den Kurator des Kabinetts zu begrüßen. Chrysander würde sprechen müssen. Darauf freute er sich nicht. Er freute sich allerdings auf Mr. Hookes Fossilien und auf die Farne und Pilze aus Übersee.

      Kauppi rückte mit finsterer Miene das Mobiliar. Wahrscheinlich versuchte er, Chrysanders Wohnung in Uppsala nachzustellen, denn Kauppi fühlte sich in London nicht wohl. Er war ein Lappe von ungefähr sechzehn Jahren, kurz und rundlich, mit flachem Gesicht, der nur selten sprach und nie fragte; Chrysander schätzte dies sehr. Vor fünf Jahren hatte er Kauppi gefunden, ein herrenloses Kind auf einem Hügel bei Jukkasjärvi, den der Professor erklomm auf der Suche nach den Geheimnissen der nordischen Fauna und Flora. Er hatte das Kind zur Seite geschoben, was es sich leise fauchend gefallen ließ, und unter ihm jenes Moos entdeckt, das er später Chrysandria taufte. Beide hatte er nach Süden gebracht und behalten, den lappischen Knaben und das lappische Moos, und während der Erste soeben einen englischen Teetisch aus seinem Blickfeld zu entfernen suchte, lebte das Zweite, flach hingeduckt auf einen Granitstein, unter einem Glassturz in Chrysanders Arbeitszimmer und zeigte sich keineswegs beeindruckt von der Reise nach London. Das Moos bedurfte keiner Erde und kaum eines Tropfen Wassers, muckste sich nicht und wünschte weder Paarung noch Luft, und in den nunmehr fünf Jahren, da es seinem Herrn für jeden wissenschaftlichen Vergleich als Bezugspunkt diente, hatte es sich nicht einen einzigen Zoll vorgewagt auf den noch unbewachsenen Grund.

      Kauppi verwahrte den Schlüssel zum Arbeitszimmer. Kauppi bewachte das Moos. Auch Kauppi war genügsam. Wenn er Möbel rückte, bis alles die rechte Ordnung hatte, so konnte sein Herr diesen Wunsch gut verstehen.

      Simon Chrysander war der Sohn des Pfarrers von Söderfors in Dalarna, das älteste Kind von sechs lebenden und sechs toten Geschwistern. Er hatte selbst Pfarrer werden sollen in Söderfors. Stattdessen wurde er Professor in Uppsala und ging nicht mehr zur Kirche. Wieder blickte er aus dem Fenster. Nie klarte es auf. Jedes Metall lief an in dem rötlichen Dunst, Kofferschließen, Knöpfe, Sezierbesteck, alles sah aus wie Bronze. Dicht lag der Nebel über der Broad Street, über Männern, Frauen, Kindern, Kutschen, Hunden, Bettlern und allerlei Unrat in den Gossen, über einem entlaufenen Pferd, das in einen Laden drängte, über einem Greis, der gestürzt war und nicht mehr aufstand, über einer Sänfte ohne Träger, schräg in den Schlamm gerammt, als solle sie dort Wurzeln schlagen. Es wurde schon dunkel. Es war nie hell gewesen. Chrysander graute es vor dem Gresham College und ihn graute auch sonst. Die Welt war groß. Der Arten waren viele. Kaum reichte eine Lebenszeit hin, dies alles recht zu sortieren. Schon dreimal hatte Chrysander heute das Moos aufgedeckt, um sich an seiner Verlässlichkeit zu freuen. Er spürte Kauppis Hand an seinem Rockschoß. Kauppi roch, wenn die Furcht zum Professor kam. Chrysander scheuchte ihn fort. Er schloss die Fensterläden und griff nach Ogilbys Stadtplan von London.

      Als er das Haus verließ, war Nacht. Er hatte Kauppi zu Bett geschickt und die Tür von außen verriegelt, denn er wollte nicht, dass Kauppi nach ihm suchen kam, wie er es in Uppsala manchmal tat. Nicht immer hielten Riegel den Lappen zurück; aber Chrysander wollte ihm doch wenigstens den Ausbruch erschweren.

      Er ging zu Fuß, die Kapuze über den Hut und das halbe Gesicht gezogen, den Degen griffbereit und einen Dolch im Ärmel. Er bezahlte einen Jungen, der ihm leuchtete, vorbei am Church Market und bis Walbrook. Dort kaufte ihm Chrysander das Licht ab und setzte seinen Weg alleine fort.

      Er wusste, was er brauchte, aber er wusste nicht, wo es war. Ogilbys Tafeln hatten ihm wenig Aufschluss gegeben über Londons verworrene Anatomie. Zunächst ging er viel zu nah ans Wasser. Er geriet in die Docks von Dowgate und musste umkehren. Er stolperte über einen Betrunkenen oder Toten, bog ein in die Thames Street und folgte ihr hartnäckig nach Westen. Ein verirrtes Schwein stieß ihn bittend mit der Schnauze an. Chrysander unternahm diese Wanderung nicht gern, aber es war an der Zeit und es half nichts, sich zu sträuben. Chrysander war kein Moos. Er bedauerte dies täglich, doch ändern konnte er es nicht.

      Er nahm Witterung auf von der Stadt. Es war nicht einfach. London hatte sein Aroma verloren in den Flammen von ’66 und die neuen Häuser wiesen ihm nicht den Weg. Sie waren schnell gebaut und oft schon rissig. Chrysander passierte Kirchhöfe ohne Kirchen, öde Flecken voller Unrat und Morast. Hier und da standen noch Brandruinen, in denen man Waren feilbot oder fertigte, in denen man schlief, wenn man kein Obdach hatte, in denen man gewiss auch mordete, wenn man ein Mörder war und ein Opfer fand in der Nacht. Chrysander tastete nach seinem Dolch. Er ging zügig voran, Blackfriars vor sich, dahinter Alsatia, dahinter der linke Rand von John Ogilbys ungenügendem Stadtplan.

      Schließlich wurde er fündig, oder man fand ihn, noch bevor er das kartographierte Gebiet verließ. Ein Jüngling, der an einer Hauswand lehnte, abgerissen, aber im Putz. «Huren, Sir?» Chrysander nickte.

      Er folgte dem Schlepper in eine Seitengasse, in einen Durchgang, in einen dunklen Hof. Man hielt dort Kaninchen und Geflügel. Die Ställe stanken. Die Hühner glucksten und scharrten leise im Schlaf. In der Haustür hingen gefilzte Vorhänge, der Zubringer schob Chrysander hindurch, dann machte er kehrt und bezog wieder Posten auf der Straße. Chrysander schlug die Kapuze zurück. Die Wirtin des Lokals nahm den neuen Gast in Empfang. Sie knickste, ließ ihn ein, ließ ihn stehen. Chrysander kannte hier nicht die Gepflogenheiten. Er blieb allein in einem düsteren Gang, Steinboden, an der Wand zwei Stühle, über der Tür eine Feuerglocke, daneben ein Gemälde von Susanna im Bade. Zaghaft folgte er dem Licht und fand den Salon.

      Es war ein bescheidenes Unternehmen, sparsam mit Mobiliar und Mädchen. Chrysander verharrte schweigend in der Tür. Auf einem Sofa saß eine Frau und stickte. Ein Alter befühlte vergnügt zwei kleine Mädchen, eines auf jedem Knie. Chrysander atmete auf. Dies waren Huren, die schlichteste Spezies in der Klasse der Res Humanae, hilfreich gegen das Grauen und einfach zu fassen in einer Formel aus Körper und Geld.

      Ein weiteres Mädchen, schon besser gerundet, plauderte an einem Tisch mit drei jungen Herren in vollem Staat. Sie blickten auf, als Chrysander eintrat, grinsten, grüßten nicht, sprachen weiter. Sie sprachen vom Theater. Eben kamen sie aus der Vorstellung. Kleopatra hatten sie gesehen, davor einen Prolog, Scherze, wie dumm der König sei. Der König war in seiner Loge gewesen. Der König hatte gelacht. Darüber lachte nun die Hure, artig und etwas matt. Die drei Männer lasen ihr den Prolog vor, den sie gedruckt besaßen, mit einer Rollenverteilung, die keinen Sinn ergab. Huren, Theater, das Gerede vom König, draußen die Hühnerställe und hier die Männer im Galakleid, saphirblau, lavendel, maron, Brokat über Brokat über Satin über ellenweise Brüsseler Spitzen, die längst nicht mehr weiß waren nach einem nebeligen Tag: Auch dies ergab wenig Sinn für Chrysander. Die Ratio für Hurenhaus, so trostreich in Uppsala, hatte hier nicht die beste Kontur. Chrysander wollte kehrtmachen. Doch ein Mädchen wollte er auch. Dem Ding war Genüge zu tun. Andernfalls schrie es Alarm. Wenn das Ding pochte, konnte Chrysander nicht denken, und er musste denken, tagaus, tagein, denn das war sein Beruf. Er wich einen Schritt zurück. Er tat einen Schritt nach vorne. Die jungen Herren blickten auf.

      «Gott

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