Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
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Kein Pirat kam zu Lucius Lawes. Auch sonst kam niemand. Allerlei Gestalten schlichen bei den Werften umher, aber sie behelligten das weiße Wesen nicht, denn es sah aus wie ein Schauspieler, den man von der Bühne gepfiffen hatte, oder wie das Gespenst eines Ertrunkenen.
Lucius kehrte um. Er lief die Thames Street stadtauswärts und dann nach links in die Black Boy Alley. Er fand das Haus, das er suchte. Lucius begann zu schreien. Er schrie nach Mr. Digges, immer wieder, immer lauter. Irgendwann öffnete Mrs. Digges ein Fenster. Sie war fett und pockennarbig und nicht angetan von der späten Störung.
«Schaffen Sie mir Ihren Mann her», brüllte Lucius. «Jetzt!»
Mrs. Digges verschwand. Mr. Digges schlurfte zum Fenster.
«Ja!», schrie Lucius.
Mr. Digges erkannte ihn nicht.
«Ich bin’s, Edward Pett», schrie Lucius, «kommen Sie herunter, ich brauche Sie, bringen Sie zwei Waffen mit, beim Himmel, ich bitte Sie, ich brauche Sie jetzt!»
Mr. Digges stöhnte und verschwand. Dann kam er auf die Straße, in Hemd und Hose, in der Hand zwei Degen. Edward Pett sah eigenartig aus in seinem unzeitigen Karnevalskostüm, aber wenn er nach Mr. Digges verlangte, wollte ihm Mr. Digges den Gefallen tun. Denn Edward Pett zahlte gut für Mr. Digges’ Dienste.
Unter den vielen Fechtmeistern der Stadt London war Mr. Digges derjenige, auf dessen Können man am meisten und auf dessen Leumund man am wenigsten gab. Er kämpfte auch mit Bären, wenn man ihm Geld dafür bot. Seine Haut war wie Baumrinde, seine Kunst mit dem Rapier unerreicht. Die Fechtlehrer des Adels drohten den Knaben mit Mr. Digges, wie man Kindern droht mit Waldgespenstern. Der junge Mann namens Pett, ein desertierter Matrose aus dem holländischen Krieg, war eines Tages bei Mr. Digges erschienen, um mit ihm die Klingen zu kreuzen. Dies sei ein Gelübde, sagte Pett. Edward Pett musste fechten mit dem schrecklichen Mr. Digges, weil er sein Land verraten und seine Familie verlassen und sonst noch allerlei Übles getan hatte, das ihm Geld einbrachte, welches er nun Mr. Digges gab wegen ebendieses Schwures. Mr. Digges kümmerten Mr. Petts Schwüre wenig, und woher er das Geld nahm, das er Mr. Digges gab, war Mr. Digges’ Sache nicht. Er warf einen kurzen Blick auf den Jüngling in Weiß, der nicht aussah wie jener Pett, den er kannte. Doch auch dies hatte Mr. Digges nicht zu kümmern. Er gab dem Kostümierten einen Degen, nahm eine Fackel und ging voran.
Lucius bezahlte im Voraus. Er folgte Mr. Digges zur Ruine von St. Mary Magdalen. Dort hatte Mr. Digges seine Fechthalle eingerichtet und empfing seine Schüler, wenn er denn welche hatte. Außer dem verrückten Edward Pett kamen wenige, und Schüler mochte Mr. Digges diesen Gast nicht nennen, denn der Matrose, warum auch immer, führte das Rapier wie sonst keiner in London, außer, vielleicht, Mr. Digges. Es gab Licht in St. Mary Magdalen, Fackeln, offenes Feuer. Die Brandwachen ließen den Meister gewähren, denn einem Mr. Digges fuhr man nicht in die Parade.
«Schnell», sagte Lucius.
Mr. Digges zündete die Fackeln an. Eine Kirche ohne Dach, geborstene Fenster. Lucius legte Rock und Weste ab. Er machte einen Schritt vor und einen zurück, er stand nicht gut, er bückte sich und zog die Schuhe aus, dann öffnete er die Spangen und die Bänder an den Knien und zog auch die Strümpfe aus, und dann nahm er den Dolch des Schweden, schnitt eine der Litzen ab und band damit sein Haar zurück.
«Schnell», wiederholte Lucius.
Mr. Digges zog. Lucius zog. Sie verzichteten, wie stets, auf den Gruß. Und dann schlugen sie sich, Mr. Digges und Lucius Lawes, hart und wortlos, Viertelstunde um Viertelstunde, bis die Stunde voll war, und dann hinein in die zweite Stunde, das Geräusch der Klingen, das Geräusch der Schritte, Attacco pede fermo, Attacco per camminata, Mr. Digges’ Stiefel und Lucius’ bloße Füße auf dem kalten Steinboden der rußgeschwärzten einstmaligen Kirche St. Mary Magdalen.
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