Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
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«Royal Society, Euer Ehren», fügte Josiah Blane hinzu, «ich bin der Stenograph.»
«Vitriol», murmelte der Earl, «Vitriol ... es klumpt ... der Saturn steht schlecht ...» Abwesend kratzte er seine linke Wade mit der Spitze des rechten Pantoffels. Dann wandte er sich langsam um und betrachtete Josiah Blane, als sei er ein Stückchen Brennstein, von geringer Bedeutung, allenfalls brauchbar für die eine oder andere Reaktion.
«Kennen Sie einen Professor, junger Mann ...», begann er zäh, dann verstummte er. Der Tiegel glühte. Josiah wich zurück bis zur Tür.
«Wie nennt man gleich dieses Land», fragte der Earl, «dieses Land, dieses Land ... das Land dort im Norden ...» Er seufzte tief und kratzte seinen fettigen Kopf. «Ah, Schweden! Einen Professor aus Schweden. Er versteht sich, so heißt es, aufs Vitriol.»
«Stets zu Diensten», sagte Josiah, «ich kenne keinen Schweden, der sich aufs Vitriol versteht.»
«Er versteht sich auch wohl auf anderes ...» Endlich nahm Lord Fearnall seinen Tiegel vom Feuer. Er entzündete einen Holzspan.
«Die Society sollte unterrichtet sein über Gelehrte aus dem Ausland ...» Er bewegte die Flamme unentschlossen von hier nach dort. «Der Stenograph sollte unterrichtet sein über die Belange der Society ...»
Der brennende Span verirrte sich in die Nähe einiger eng verschnürter Pakete. Lord Fearnall schien ihn vergessen zu haben. Er starrte angestrengt in den Tiegel. Josiah musterte die Pakete. Er dachte an den Spruch vom Coldstream-Regiment. Er fragte sich, in welchen Behältnissen man Pulver verwahrt.
«Ich wüsste doch gerne», sagte der Earl, «um was es sich handelt bei dieser schwedischen Angelegenheit.» Die Flamme berührte die Schnur des größten Pakets.
«Simon Chrysander, Professor Upsaliensis», rief Josiah, die Hand an der Klinke, «er ist bestellt, das Kabinett zu ordnen, morgen wird er im Gresham College empfangen, er wohnt in der Throgmorton Street, das Eckhaus an der Broad Street, Mr. Hooke gab ihm seine Köchin, er reist mit einem kleinen Wilden aus Lappland, er rechnet Rationes über die Welt und gewiss auch übers Vitriol, Euer Ehren, achtet auf Eure Lunte!»
«Danke», sagte der Earl of Fearnall. Er ließ den Fidibus fallen und trat ihn aus. Dann wies er auf die Tür. Josiah Blane lief davon. Lucius nahm die Perücke ab.
Lange durchforschte er seine Garderobe. Sämtliche Gewänder, und es gab deren viele, blätterte er aufmerksam durch, ob er die passende Geschichte fände in diesem vielfältigen und kostbaren Buch, doch nichts gefiel ihm und nichts empfahl sich als Anfang eines neuen Spiels für den Mann namens Simon Chrysander. Endlich stieß er auf das Kleid des Winters. Er hatte es auf der Bühne getragen, als man in Whitehall das Stück von Pomona und Pan aufführte zum Geburtstag der Königin. Der Winter hatte Pomona geraubt und fortgeschleppt und dazu allerlei Verse über kargen Boden und Bäume ohne Frucht rezitiert, um den König zu amüsieren, der seine kinderlose Frau nicht allzu sehr schätzte.
Das Kostüm des Winters war weiß wie das Kleidchen der Hure: alles, vom Hut bis zu den Schuhen. Nur eine schmale silberne Stickerei, Schneeflocken vielleicht oder Eisblumen, zierten Ärmel und Hosenbänder. Man konnte diesen Anzug in Gesellschaft nicht tragen. Weiß in Weiß sah die Mode nicht vor. Lucius drehte die Perücke des Winters in den Händen. Die weißen Locken sagten ihm nicht zu. Er überlegte. Dann schickte er nach dem Barbier.
Drei Stunden später warf der Barbier die Papilloten fort und stellte die Brennscheren ins Wasser. Lucius massierte seinen Nacken. Es war schwere Arbeit, sein glattes Haar in ein Gebilde zu verwandeln, das aussah wie die schönste Perücke. Lucius ließ sich ankleiden und trat vor den Spiegel. Da stand der Winter, mit blassen Wangen, dicht in rote Locken gehüllt, als trüge er Feuer auf den Schultern. Lucius war sich fremd in diesem Kostüm. Er schminkte seine Lippen, dann wischte er die Farbe wieder fort. Auch Puder wollte er nicht und erst recht kein Bleiweiß. Der Schwede sollte ihn erkennen. Das wiederholte er lautlos, als er in die Kutsche stieg, er soll sich wundern, aber er soll mich kennen, er soll wissen, dass ich das bin, ich, Lord Fearnall, ich, Lucius Lawes, ich, Lucy, im weißen Kleid und mit dem eigenen Haar.
Er lächelte furchtsam vor sich hin. Er wollte den Degen ablegen. Eine seltsame Idee. Lucius lächelte weiter, ein wenig starr, und er legte den Degen ab und schob ihn unter den Sitz.
Er fuhr bis zur Royal Exchange, dort stieg er aus und nahm eine Sänfte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Haus des Schweden, aber er konnte nicht zu Fuß gehen in seinen weißen Seidenschuhen und all seiner weißen Pracht. Throgmorton Ecke Broad Street schickte er die Sänfte fort. Es war längst dunkel. Viele Leute eilten noch durch die Straßen, die Männer von der Börse und vom Steueramt, die auch sonntags nicht von ihren Dienststellen lassen konnten, Verkäufer, Gesindel, Burschen mit Licht, Familien, die andere Familien besuchten zum Abendbrot. Lucius stakste über eine Pfütze und suchte sich eine trockene Stelle. Dort stand er wie festgewurzelt. Passanten gafften ihn an. Lucius blickte hinauf zu den Fenstern.
Nun beträte er das Haus. Dann stiege er die Treppen hinauf. Es gäbe einen Türklopfer, vielleicht eine Glocke, vielleicht stünde der junge Wilde auf der Schwelle, vielleicht auch die eine oder andere gelehrte Erfindung, ein Messgerät womöglich, das Besucher begutachtete, ob sie auch wohlgesinnt seien. Bei Lucius mäße das Gerät vertrackte Werte. Er träte trotzdem ein. Der Schwede trüge einen Hausmantel und ein Tuch um den Kopf und zöge eine seltsame Miene. Er schwiege. Lucius schwiege ebenfalls. Er wäre verlegen und wüsste nicht, was zu tun sei in diesem Fall. Der Schwede sähe ihn lange an, und Lucius ertrüge den Blick tapfer, und der Schwede würde dann seines weißen Anzugs gewahr und seiner roten Locken und auch seiner Verlegenheit, und er ließe Lucius noch ein wenig leiden und dann bäte er ihn leise und nicht allzu freundlich, ihn zu unterrichten über die Bedeutung dieses Kostüms, und wenn sich Lucius überwände, in die Augen des Schweden zu blicken, sähe er darinnen, dass dieser den Winter überaus kleidsam fand und auch das Werk der Brennschere. Lucius lüde den Schweden dann ein, selbst zu bestimmen – das Kleid, das Haar, den späten Besuch, und Lucius an sich: was dies alles bedeute.
«Mylord», begänne der Schwede, «um Euch zu bestimmen, muss ich Euch, mit Verlaub, untersuchen, wie die Objekte im Gresham College. Voreilig hielt ich diese Aufgabe für einfach. Doch ist sie wohl der Mühe wert. Zwar nannte ich Euch eine Missgeburt und kann dies eben nicht widerrufen, doch auch solche, wie man weiß, lohnen eine Bestimmung und zeigen die Vielfalt der Natur. Zwar habt Ihr mich gefoppt und beleidigt und ich grolle Euch sehr, doch weil ich Euch, in meinem Aberwitz, gut leiden mochte, als wir einander gestern trafen ...» Hier unterbräche er sich. Lucius schlüge die Augen nieder. «Nun denn», führe der Schwede fort, «ich will annehmen, Mylord, dass Ihr Wert genug habt, um studiert zu werden wie ein indianischer Kürbis oder ein Einsiedlerkrebs, der sich fremde Muschelschalen anzieht, weil er selbst kein Haus hat und sein Leib zu weich ist für ein ungepanzertes Leben. So will ich Euch denn bestimmen, zumal Ihr ausseht in Eurem weißen Kleid wie ein Baumwollstrauch aus Virginia.»
So spräche der Mann aus Schweden zu Lucy im weißen Kleid. Bald vergäße er den Mylord und das Euer Ehren, und Lucy vergäße, dass er kein Spiel wusste für den Schweden, und der Schwede brächte nach und nach eine gute Ordnung in Lucy, und Lucy brächte nach und nach eine gute Unordnung in den Schweden, und dies ginge weiter und weiter, die ganze Nacht.
Wie versteinert stand der Earl of Fearnall in der Throgmorton Street. Er fror. Sein Nacken schmerzte. Keinen einzigen Schritt wagte er in Richtung dieses Hauses. Er stand lange, eine Alabasterfigur mit menschlichem Haar, stumm und entsetzt und immer entsetzter, «die Pest ...», begann er, und noch einmal «die Pest ...», und irgendwann