Die Selbstzerstörung der Demokratie. Baal Müller
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• ein Bildungssystem, das Millionen Analphabeten produziert;
• ein jährlicher hunderttausendfacher Brain Drain bzw. die Abwanderung gutausgebildeter Leistungsträger in Länder, in denen ihre Fähigkeiten höher geschätzt werden;
• und eine Regulierung der öffentlichen Meinung durch Tabus, Sprechverbote, Formulierungsvorgaben, Gesinnungsschnüffelei, Überwachung, Bespitzelung, Versammlungsverbote, »Cancel Culture« und andere Formen der Repression – zuletzt besonders unter dem Vorwand der Corona-Bekämpfung –, die man früher nur von totalitären Staaten kannte.
Gegen all diese Tendenzen regt sich zwar Widerstand, aber noch immer werden die für diese Entwicklungen politisch verantwortlichen Parteien von breiten Mehrheiten gewählt. Der Vorwurf, die politische Klasse habe eine Art Diktatur etabliert, greift also zu kurz; stattdessen hat sich der Begriff »Postdemokratie« für das höchst beunruhigende Phänomen eingebürgert, dass zahlreiche Bürger offenbar freiwillig eine Politik unterstützen, die ihnen objektiv schadet. Diskussionen darüber sind nur schwer möglich, da oft bereits die Benennung der soeben aufgezählten Tatsachen empört zurückgewiesen und mit begrifflichen Tabus belegt wird. Während der Totalitarismus klassischer Diktaturen von nahezu der gesamten Bevölkerung als unerträglicher Zwang und Unterdrückung empfunden wurde, gilt dies für seine »sanfte«, spät- oder postdemokratische Variante nicht mehr. Im Gegenteil: Viele Bürger glauben sogar, sich mutig für die Demokratie zu engagieren, wenn sie an Demonstrationen teilnehmen, zu denen die Regierung selbst aufgerufen hat, und beteiligen sich an der Denunziation Andersdenkender, die sie als »Zivilcourage« bezeichnen.
Für diejenigen, die bereit sind, diese Entwicklung zu erkennen, stellt sich die Frage nach ihren Ursachen. Handelt es sich dabei um kontingente Faktoren wie Inkompetenz, Korruption, Macht- und Geldgier politischer Entscheidungsträger, die man abwählen könnte, oder um einen systemisch bedingten Missbrauch demokratischer Strukturen durch die politische Klasse, dem durch Reformen und mehr Bürgerpartizipation beizukommen wäre, oder gar um Verfallstendenzen, denen das demokratische System insgesamt unterliegt?
Vor der Wiedervereinigung hätten nur wenige solche Fragen gestellt; trotz mancher Gründe zur Unzufriedenheit war die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik mit der Demokratie in Deutschland zufrieden, sah das Grundgesetz – zu Recht – als Ergebnis der Lehren, die aus den Katastrophen der deutschen Geschichte gezogen wurden, und hielt die westliche, freiheitliche Gesellschaftsform im Systemvergleich mit dem Kommunismus für prinzipiell überlegen. Auch in den neuen Bundesländern war die Zustimmungsrate nach dem Beitritt hoch und hielt sich in den folgenden Jahren in West- und Ostdeutschland auf hohem Niveau, auch wenn es, bedingt durch die Art der »Abwicklung« der DDR, während der neunziger Jahre im Osten zu einer Abnahme der Zufriedenheit kam. Nach der Jahrtausendwende stieg die Anzahl der Unzufriedenen vor allem aufgrund der Euro- sowie der weltweiten Finanzkrise jedoch deutlich an – im Osten mehr als im Westen –, und in jüngster Vergangenheit führte die Migrationspolitik der Bundesregierung nicht nur zu einer Abwendung beträchtlicher Teile der Bevölkerung, insbesondere in Ostdeutschland, von den schrumpfenden vormaligen »Volksparteien«, sondern auch vom »real existierenden« demokratischen System. Diese Entwicklung ist umso besorgniserregender, als sie breite bürgerliche Schichten erfasst hat.1
Betrachtet man die – natürlich oft unreflektiert vorgetragene – Kritik an Demokratie und Parteienstaat näher, lässt sich feststellen, dass Verschiedenes in Frage gestellt wird:
1. Das Funktionieren der Demokratie
Dabei wird vorausgesetzt, dass die grundgesetzliche Ordnung noch intakt sei, durch das Verhalten der Parteien aber nicht mehr hinreichend mit der »Verfassungswirklichkeit« zur Deckung gelange.
2. Die Demokratie des Grundgesetzes
In den Augen dieser Kritiker wird die Demokratie bereits auf Verfassungsebene nicht ausreichend verwirklicht: Das Grundgesetz sei nur ein Konstrukt nach dem Willen der Siegermächte, ein Provisorium der Besatzungszeit, das nach der Wiedervereinigung durch eine wirkliche, vom Volk selbst verabschiedete Verfassung hätte ersetzt werden müssen. Da dies nicht der Fall gewesen sei, ermangele ihm die Legitimität. Oder, noch weitaus radikaler: Das GG sei im Zuge der Wiedervereinigung, von der Bevölkerung weithin unbemerkt, beseitigt worden, und eine illegitime Regierung gaukle dem Volk dessen weitere Geltung lediglich vor. Nach dieser vor allem von sogenannten »Reichsbürgern« vertretenen Auffassung ist die Bundesrepublik Deutschland mangels gültiger Verfassung überhaupt keine Demokratie, ja nicht einmal mehr ein Staat, sondern lediglich ein Wirtschaftsunternehmen, das Menschen, die sich noch immer irrtümlich für Bürger halten, als sein »Personal« beschäftigt und ausbeutet.
3. Die Demokratie als politische Ordnung allgemein
Eine generelle Ablehnung der Demokratie aus monarchistischer oder »führerstaatlich«-faschistischer Sicht ist nach 1945 nur noch in sehr kleinen isolierten Nischen vertreten worden; die marxistische Kritik an der »bürgerlichen (Klassen-)Demokratie«, die noch durch eine sozialistische »Volksdemokratie« vollendet werden müsse, die das Privateigentum der Produktionsmittel abschaffe und wirkliche Gleichheit herstelle, spielt seit 1990 ebenfalls keine Rolle mehr.
Abgesehen von diesen ideologischen Restbeständen gibt es heute eine – in Deutschland wenig bekannte, sondern eher in den USA vertretene – intellektuelle Demokratiekritik aus libertärer Perspektive, die monarchistische und »anarchokapitalistische« Positionen verbindet. Nach dieser Position wird die Demokratie nicht nur falsch umgesetzt, sondern ist bereits in der Theorie ein schädliches Gesellschaftsmodell, das durch eine »natürliche Ordnung« ersetzt werden sollte. Wir werden sehen, dass diese Kritik den Finger in manche Wunden legt, auch wenn man ihren radikalen Konsequenzen nicht folgen muss.
Neben der philosophischen, bis in die Antike zurückreichenden Demokratiekritik gibt es die »theokratische« Kritik des radikalen Islam, der jede säkulare Gesellschaftsform bekämpft. Aufgrund der muslimischen Einwanderung spielt sie mittlerweile auch in Europa eine Rolle, auch wenn die meisten Muslime (und ihre nichtmuslimischen Lobbyisten) – sei es aus mangelnder Vertrautheit mit den eigenen religiösen Lehren oder deren halbherziger Umsetzung, sei es aus bewusster Täuschung der »Ungläubigen« (Taqiyya) – die Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie bestreiten. Sowohl der Koran als auch die politische Realität in muslimischen Ländern sprechen indes eine andere Sprache (was selbstverständlich nicht bedeutet, dass auch die meisten Muslime die Demokratie ablehnen würden).
Insgesamt zeigt sich, dass die Demokratie in Deutschland und der gesamten westlichen Welt in großer Gefahr ist und ihre Transformation bis hin zur völligen Zerstörung all dessen, was wir unter Demokratie verstehen, droht. Allerdings wird ihre Abschaffung nicht von heute auf morgen durch eine Revolution oder einen Staatsstreich stattfinden, sondern sie vollzieht sich, wenn es so weit kommt, eher als allmähliche, schleichende Zersetzung des Systems von innen heraus. Kritische Bürger, die von der veröffentlichten Meinung als »rechtspopulistische« Demokratiefeinde geschmäht werden, tragen selbst am wenigsten zu diesem Prozess bei, sondern benennen ihn lediglich auf mehr oder weniger angemessene – und manchmal auch missverständliche – Weise. Sie sind gleichsam der Seismograf, der das aufkommende Erdbeben anzeigt und dafür zerschlagen wird. Allerdings ist die Entdemokratisierung kein Naturereignis, sondern wird von der politischen Klasse – unter formaler Beibehaltung demokratischer Wahlen – herbeigeführt. Dabei wirken bewusste und willentliche Maßnahmen wie die Ausschaltung oder Marginalisierung politischer Konkurrenten durch ständige Verunglimpfung, Verdrängung aus den Massenmedien, geheimdienstliche Beobachtung usw. mit allgemeinen Verfallstendenzen zusammen.
Der Verfall der Demokratie vollzieht sich auf also mehreren Ebenen. Immanente Tendenzen zur Selbstzerstörung werden von externen, historisch kontingenten Faktoren