Die Traumdeutung. Sigmund Freud
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Wenn das Wachinteresse nebst den inneren und äußeren Schlafreizen zur Deckung der Traumätiologie ausreichte, so müssten wir imstande sein, von der Herkunft aller Elemente eines Traums befriedigende Rechenschaft zu geben; das Rätsel der Traumquellen wäre gelöst, und es bliebe noch die Aufgabe, den Anteil der psychischen und der somatischen Traumreize in den einzelnen Träumen abzugrenzen. In Wirklichkeit ist diese vollständige Auflösung eines Traums noch in keinem Falle gelungen, und jedem, der dies versucht hat, sind – meist sehr reichlich – Traumbestandteile übriggeblieben, über deren Herkunft er keine Aussage machen konnte. Das Tagesinteresse als psychische Traumquelle trägt offenbar nicht so weit, als man nach den zuversichtlichen Behauptungen, dass jeder im Traum sein Geschäft weiter betreibe, erwarten sollte.
Andere psychische Traumquellen sind nicht bekannt. Es lassen also alle in der Literatur vertretenen Traumerklärungen – mit Ausnahme etwa der später zu erwähnenden von Scherner – eine große Lücke offen, wo es sich um die Ableitung des für den Traum am meisten charakteristischen Materials von Vorstellungsbildern handelt. In dieser Verlegenheit hat die Mehrzahl der Autoren die Neigung entwickelt, den psychischen Anteil an der Traumerregung, dem so schwer beizukommen ist, möglichst zu verkleinern. Sie unterscheiden zwar als Haupteinteilung den Nervenreiz- und den Assoziationstraum, welch letzterer ausschließlich in der Reproduktion seine Quelle findet (Wundt, 1874, 657 f.), aber sie können den Zweifel nicht loswerden, »ob sie sich ohne anstoßgebenden Leibreiz einstellen« (Volkelt, 1875, 127). Auch die Charakteristik des reinen Assoziationstraumes versagt: »In den eigentlichen Assoziationsträumen kann von einem solchen festen Kern nicht mehr die Rede sein. Hier dringt die lose Gruppierung auch in den Mittelpunkt des Traumes ein. Das ohnedies von Vernunft und Verstand freigelassene Vorstellungsleben ist hier auch von jenen gewichtvolleren Leib- und Seelenerregungen nicht mehr zusammengehalten und so seinem eigenen bunten Schieben und Treiben, seinem eigenen lockeren Durcheinandertaumeln überlassen.« (Volkelt, S. 118.) Eine Verkleinerung des psychischen Anteils an der Traumerregung versucht dann Wundt (1874, 656–7), indem er ausführt, dass man die »Phantasmen des Traumes wohl mit Unrecht als reine Halluzinationen ansehe. Wahrscheinlich sind die meisten Traumvorstellungen in Wirklichkeit Illusionen, indem sie von den leisen Sinneseindrücken ausgehen, die niemals im Schlafe erlöschen.« Weygandt hat sich diese Ansicht angeeignet und sie verallgemeinert (1893, 17). Er behauptet für alle Traumvorstellungen, dass »ihre nächste Ursache Sinnesreize sind, daran erst schließen sich reproduktive Assoziationen«. Noch weiter in der Verdrängung der psychischen Reizquellen geht Tissié (1898, 183): »Les rêves d’origine absolument psychique n’existent pas«, und anderswo (S. 6): »Les pensées de nos rêves nous viennent du dehors…«
Diejenigen Autoren, welche wie der einflussreiche Philosoph Wundt eine Mittelstellung einnehmen, versäumen nicht anzumerken, dass in den meisten Träumen somatische Reize und die unbekannten oder als Tagesinteresse erkannten psychischen Anreger des Traumes zusammenwirken.
Wir werden später erfahren, dass das Rätsel der Traumbildung durch die Aufdeckung einer unvermuteten psychischen Reizquelle gelöst werden kann. Vorläufig wollen wir uns über die Überschätzung der nicht aus dem Seelenleben stammenden Reize zur Traumbildung nicht verwundern. Nicht nur, dass diese allein leicht aufzufinden und selbst durchs Experiment zu bestätigen sind; es entspricht auch die somatische Auffassung der Traumentstehung durchwegs der heute in der Psychiatrie herrschenden Denkrichtung. Die Herrschaft des Gehirns über den Organismus wird zwar nachdrücklichst betont, aber alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Äußerungen erweisen könnte, schreckt den Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müsste. Das Misstrauen des Psychiaters hat die Psyche gleichsam unter Kuratel gesetzt und fordert nun, dass keine ihrer Regungen ein ihr eigenes Vermögen verrate. Doch zeugt dies Benehmen von nichts Anderem als von einem geringen Zutrauen in die Haltbarkeit der Kausalverkettung, die sich zwischen Leiblichem und Seelischem erstreckt. Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlass eines Phänomens erkennen lässt, wird ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen. Wo aber das Psychische für unsere derzeitige Erkenntnis die Endstation bedeuten müsste, da braucht es darum nicht geleugnet zu werden.
D) Warum man den Traum nach dem Erwachen vergisst?
Dass der Traum am Morgen »zerrinnt«, ist sprichwörtlich. Freilich ist er der Erinnerung fähig. Denn wir kennen den Traum ja nur aus der Erinnerung an ihn nach dem Erwachen; aber wir glauben sehr oft, dass wir ihn nur unvollständig erinnern, während in der Nacht mehr von ihm da war; wir können beobachten, wie eine des Morgens noch lebhafte Traumerinnerung im Laufe des Tages bis auf kleine Brocken dahinschwindet; wir wissen oft, dass wir geträumt haben, aber nicht, was wir geträumt haben, und wir sind an die Erfahrung, dass der Traum dem Vergessen unterworfen ist, so gewöhnt, dass wir die Möglichkeit nicht als absurd verwerfen, dass auch der bei Nacht geträumt haben könnte, der am Morgen weder vom Inhalt noch von der Tatsache des Träumens etwas weiß. Anderseits kommt es vor, dass Träume eine außerordentliche Haltbarkeit im Gedächtnisse zeigen. Ich habe bei meinen Patienten Träume analysiert, die sich ihnen vor fünfundzwanzig und mehr Jahren ereignet hatten, und kann mich an einen eigenen Traum erinnern, der durch mindestens siebenunddreißig Jahre vom heutigen Tag getrennt ist und doch an seiner Gedächtnisfrische nichts eingebüßt hat. Dies alles ist sehr merkwürdig und zunächst nicht verständlich.
Über das Vergessen der Träume handelt am ausführlichsten Strümpell. Dieses Vergessen ist offenbar ein komplexes Phänomen, denn Strümpell führt es nicht auf einen einzigen, sondern auf eine ganze Reihe von Gründen zurück.
Zunächst sind für das Vergessen der Träume alle jene Gründe wirksam, die im Wachleben das Vergessen herbeiführen. Wir pflegen als Wachende eine Unzahl von Empfindungen und Wahrnehmungen alsbald zu vergessen, weil sie zu schwach waren, weil die an sie geknüpfte Seelenerregung einen zu geringen Grad hatte. Dasselbe ist rücksichtlich vieler Traumbilder der Fall; sie werden vergessen, weil sie zu schwach waren, während stärkere Bilder aus ihrer Nähe erinnert werden. Übrigens ist das Moment der Intensität für sich allein sicher nicht entscheidend für die Erhaltung der Traumbilder; Strümpell gesteht wie auch andere Autoren (Calkins, 1893) zu, dass man häufig Traumbilder rasch vergisst, von denen man weiß, dass sie sehr lebhaft waren, während unter den im Gedächtnis erhaltenen sich sehr viele schattenhafte, sinnesschwache Bilder befinden. Ferner pflegt man im Wachen leicht zu vergessen, was sich nur einmal ereignet hat, und besser zu merken, was man wiederholt wahrnehmen konnte. Die meisten Traumbilder sind aber einmalige Erlebnisse; diese Eigentümlichkeit wird gleichmäßig zum Vergessen aller Träume beitragen. Weit bedeutsamer ist dann ein dritter Grund des Vergessens. Damit Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken usw. eine gewisse Erinnerungsgröße erlangen, ist es notwendig, dass sie nicht vereinzelt bleiben, sondern Verbindungen und Vergesellschaftungen passender Art eingehen. Löst man einen kleinen Vers in seine Worte auf und schüttelt diese durcheinander, so wird es sehr schwer, ihn zu merken. »Wohlgeordnet und in sachgemäßer Folge hilft ein Wort dem anderen, und das Ganze steht sinnvoll in der Erinnerung leicht und lange fest. Widersinniges behalten wir im Allgemeinen ebenso schwer und ebenso selten wie das Verworrene und Ordnungslose.« Nun fehlt den Träumen in den meisten Fällen Verständlichkeit und Ordnung. Die Traumkompositionen entbehren an sich der Möglichkeit ihres eigenen Gedächtnisses und werden vergessen, weil sie meistens schon in den nächsten Zeitmomenten