Lockdown: Das Anhalten der Welt. Fritz B. Simon
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Staatstherapie für Therapiestaaten
von Steffen Roth
Wenn das Haus brennt, kann allerhand passieren. Was aber ungleich öfter passiert, ist Fehlalarm. Alarm als Dauerzustand ist Nährboden für den eigentlichen Flächenbrand. Auch wer fest an die aktuelle Krise glaubt, ist daher gut beraten, Alarmismus ebenso nachhaltig zu neutralisieren wie das Risiko, das ihn triggert.
Einen Kurzschluss von Alarm auf Politik gibt es dahingegen selbst dann nicht, wenn man sie mit Hierarchie verwechselt: Der Weg zum Notfall und dahinter führt oft auch über Netzwerke, während in Bundesligatabellen definitiv keine Machtspielergebnisse stehen. Indem wir Politik, Staat und Hierarchie konzeptionell nur lose koppeln, können wir nun zwar nicht mehr beobachten, dass sich alle »anderen« Funktionssysteme dem Staat unterordnen, dafür steigt aber der Beobachtungsspielraum:
Die Diapositive zeigen staatliche Präferenzen für die Funktionssysteme [im Uhrzeigersinn von Sport (Schuh) aus: Massenmedien, Bildung, Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, und Recht]. So lassen sich unterschiedliche Staatsformen unterscheiden: links der neoliberale Idealstaat mit nahezu ausschließlichem Fokus auf Wirtschaft, Recht und Politik. In der Mitte ein allseits investierender Wohlfahrtsstaat mit Schwerpunkt Brot und Spiele, was in der spätmodernen Variante auch Kultur- und Medienkonsum einschließt. Rechts ein »neu-normaler«, »blauer« Gesundheitspolizeistaat, in dem Wirtschaft und Recht wenig Gewicht haben, wenn Gesundheit und Wissenschaft zu dem Schluss kommen, dass Leben auf dem Spiel steht.
Im Ergebnis dieser Übung entsteht zunächst einmal eine klare Antwort auf die Frage, wo sich die von Fritz Simon beobachteten Über- und Unterordnungen von Politik und Wirtschaft überhaupt abspielen: hier eben in der Organisation Staat, wie andernorts in Unternehmen, Universitäten oder Sportvereinen. Weiterhin sieht man, dass sich auf diese Weise unterschiedliche Organisationsformen vergleichen lassen. So zeigt sich zu guter Letzt auch, dass Staatsformen weniger davon abhängen, was Bürger gut oder schlecht finden, als vielmehr davon, mit welchen Codes welcher Funktionssysteme sich Staaten jetzt und in Zukunft selbst programmieren.
Wenn dabei Gesundheit nun eine bislang ungeahnte Rolle spielt, dann besteht mitunter Anlass zur Sorge, dass sich mit den von Fritz Simon beschriebenen mittelalterlichen Eindämmungsmaßnahmen weitere feudale Strukturmuster ausbreiten. Das wäre allerdings weniger neu als normal, war unser »Gerangel« um Wohlfahrt doch immer mehr höfisch als modern. Insofern würde momentan nur überdeutlich, dass ein Wohlfahrtsstaat totalitär ist, sobald er Hilfsbedürftige schützt, indem er alle wie Hilfsbedürftige behandelt.
Gleichzeitig zeigt die drohende Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Kampfzone, dass sich der Staat auch dann weder »der Gesundheit« noch gesundheitswissenschaftlichen Abteilungen unterordnet, wenn er sich äußerst stark von ihnen irritieren lässt. Gleiches gilt aber auch in Gegenrichtung: Der Staat kann Krisenunternehmen womöglich zu mehr Politikbeobachtung zwingen; »die Wirtschaft« hat er damit noch lange nicht im Sack.
Dass aktuell die politische Stunde der Gesundheit schlägt, hat auch Vorteile. So reduziert der neu-politische Gesundheitsfokus anderswo den Beobachtungsdruck und schafft Raum für tatsächlich Neues. Gleichzeitig entstehen im Zuge der Krise eben neue Ansatzpunkte für eine Gesundheitswissenschaft und -profession, die sich der pandemischen Politik nicht untergeordnet, sondern an die Seite gestellt denkt. Indem wir den Gesundheitsbegriff auf Organismen, Psychen und – warum dann nicht auch – soziale Systeme beziehen, schlägt die Stunde auch und gerade der Kommunikationsberatung und -therapie jetzt, und nicht erst fünf nach zwölf.
Es ist gelinde gesagt nicht ganz ausgeschlossen, dass diese Krise in Gestalt und Ausmaß auf wechselseitiger Fehleinschätzung von politischer und wissenschaftlicher Kommunikation beruht. Die Einsicht in dieses Kommunikationsproblem wäre eine goldene Brücke für den Weg aus der Krise. Wie Kriegsseelsorger Soldaten nicht erst nach Ende des Krieges ihr Ohr schenken, so kann an dieser Brücke in eine Nachkrisenzeit bereits jetzt gebaut werden und somit ein versöhnlicher Raum geschaffen werden, in dem sich politische und wissenschaftliche Entscheidungsträger mit genügend Zeit und in allen Ehren von der Last alteuropäischer Herrschafts- und Gewissheitserwartungen verabschieden können.
All das wäre für systemische Denker nicht neu, sondern einfach nur normal und somit machbar.
Das Mantra vom Sparen im Gesundheitssystem muss grundsätzlich überdacht werden
Der Standard, 10. Mai 2020
Wir dürfen unser Gesundheitssystem nicht dem freien Markt überlassen!
Frankfurter Rundschau, 11. Mai 2020
Surviving Covid-19 May Not Feel Like Recovery for Some
New York Times, 11. Mai 2020
Corona-Demonstrationen: Kein Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker
FAZ, 11. Mai 2020
6Politik und Wissenschaft dezentrieren sich
von Heiko Kleve
11. Mai 2020
Spätestens an dieser Stelle möchte ich den Diskurs mit den aktuellen Geschehnissen koppeln. Denn nochmals ist deutlich geworden, dass Fritz Simon den Staat als den politischen Schiedsrichter im Spiel der Systeme versteht, der notfalls auch hart eingreifen muss, der vorübergehend einige Spieler vom Feld weist, deren Stunden aber nach der Krise wiederkommen. Steffen Roth hat hier eine andere Perspektive: Er betrachtet die Systeme gleichberechtigter. Er sieht womöglich das, was in der soziologischen Systemtheorie gemeinhin mit dem Begriff »polyzentrisch« bezeichnet wird, dass keinem System eine Hoheit im Spiel zukommt. Alle spielen das gleiche Spiel als gemeine Spieler. Sie beobachten sich dabei, wie sie sich beobachten, wie sie – mit Fritz Simon gesprochen – sich und andere beschreiben sowie deren Dynamiken erklären und bewerten.7
Wenn wir das nun auf die aktuelle Situation beziehen, dann sehen wir, dass vielleicht gerade vom Simon- in den Roth-Zustand gewechselt wird. Die Bundespolitik gibt ihre Pandemie-Bekämpfung an die Länder ab. Das RKI stellt seine beiden wöchentlichen Pressekonferenzen ein. Könnte es nun sein, dass durch diese Dezentralisierung der Zuständigkeiten auch die anderen Funktionssysteme wieder stärker in Erscheinung treten? Einige Anzeichen sprechen dafür: Sport soll wieder möglich sein, und auch die Kultur scharrt schon mit den Füßen.
Apropos Kultur: Wir können uns nun auf einen neuen Zwischenruf freuen, und zwar von Prof. Dr. Michael Hutter, einem Kulturkenner, der sich zudem mit (ernsten) Spielen auskennt. Wie bewertet er den bisherigen Diskurs zwischen Simon und Roth? Wo liegen die blinden Flecken der beiden? Wo lassen sich die »kulturellen Quellen« des politischen Umgangs mit COVID-19 verorten, und wo befinden wir uns nun? Was zeichnet sich gerade ab? Könnte es sein, dass die eingeleitete Dezentrierung der Krisenbearbeitung der Komplexität der aktuellen Problemlage besser entspricht als das bisherige Krisenmanagement? Oder wird mit höherer Wahrscheinlichkeit das passieren, was einige Krisenpessimisten schwarzmalerisch an die Wand pinseln: Alles wird nur noch schlimmer kommen, wenn die zweite oder gar