Lockdown: Das Anhalten der Welt. Fritz B. Simon
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Die Zeit, 29. April 2020
Despite Trump’s Nudging, Schools Are Likely to Stay Shut for Months
New York Times, 29. April 2020
Lufthansa reduziert Arbeitszeit und Kapazität weiter
FAZ, 29. April 2020
Systemrelevante Berufe: Klatschen ist gut, ordentlich bezahlen ist besser
Frankfurter Rundschau, 29. April 2020
Corona-Lockerungen: Geld oder Leben, was wiegt mehr?
Rheinpfalz, 29. April 2020
3Organisation gesellschaftlicher Aufgaben
von Heiko Kleve
29. April 2020
Nun sind Fritz Simon und Steffen Roth von der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wirtschaft auf die Ebene der Organisationen gesprungen. Fritz Simon hat Beispiele angeführt, mit denen er deutlich macht, wie er seine Kritik am »Marktfundamentalismus« meint, nämlich als Kritik an der Privatisierung von kommunalen, sozialen oder gesundheitsbezogenen Aufgaben. Entsprechend der kritisierten Privatisierungslogik sollen nicht nur klassische Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft dem Marktwettbewerb folgen, sondern z. B. auch Krankenhäuser. Wir könnten in Ländern, die die Krankenversorgung in dieser Weise massiv privatisiert haben, sehen, dass damit besondere Probleme in der Patientenbehandlung einhergehen. Aber stimmt das? Italien, das bekanntlich große Schwierigkeiten hatte, die Corona-Krise zu bewältigen, hat gewissermaßen ein sozialistisches Gesundheitssystem, jedenfalls eine Finanzierung des Systems, wie es sie auch in der realsozialistischen DDR gegeben hat: »Italien verfügt über ein staatliches mit Steuern finanziertes Gesundheitswesen. Die einzelnen Leistungen werden vom nationalen Gesundheitsdienst (SSN, Servizio Sanitario Nazionale) zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, allen Bürger*innen unabhängig vom Einkommen und sozialem Stand eine einheitliche medizinische Grundversorgung mit Hilfe der italienischen Krankenversicherung zu ermöglichen.«5 Im Gegensatz dazu hat Singapur, der Stadtstaat, der die Corona-Krise offenbar vorbildlich und mit einer abgewogenen Verhältnismäßigkeit der Mittel bewältigt, ein fast gänzlich privates Gesundheitswesen. Steffen Roth betont, dass auch der Staat eine Organisation sei, in der die unterschiedlichen Logiken der gesellschaftlichen Systeme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Kunst zirkulieren, sich gegenseitig tangieren und als Kontextfaktoren aufeinander Bezug nehmen. Die Frage scheint doch zu sein, wie Organisationen auch jenseits der Realwirtschaft ihre Entscheidungsprämissen verstehen und strukturieren. Wie sollten also beispielsweise Krankenhäuser finanziert werden? Welche Rolle müsste hier die Wirtschaft spielen? Wie ist bestenfalls der Staat eingebunden?
Wozu Staat?
von Fritz B. Simon
Lassen wir die Frage, ob die Charakterisierung des Staats als Organisation passend ist, mal beiseite (es gibt ja die These, »Staat« sei die Selbstbeschreibung des politischen Systems – was mir ziemlich plausibel erscheint), und schauen wir auf die empirischen Daten von Steffen Roth, auf die er verweist, wenn er die vielen Wirtschaftsministerien ins Feld führt.
Ich finde es gut, hier auf die empirischen Daten zu schauen, aber – und das scheint mir der Knackpunkt – ich würde sie genau umgekehrt interpretieren: Die Tatsache, dass wir so viele Wirtschaftsministerien haben, ist Beleg dafür, dass die Wirtschaft inzwischen die Politik übernommen hat. Denn all diese Ministerien verstehen sich – zumindest ist das die Folgerung, wenn man ihre Politik analysiert – als Lobbyisten für Wirtschaftsinteressen. Am deutlichsten ist dies beim Landwirtschaftsministerium, das sich dem Schutz der heimischen Bauern verschrieben hat, aber auch das Außenministerium fungiert oft genug als Handelsvertreter, wenn DAX-Vorstände mit dem Außenminister in die weite Welt fahren. Dass zunehmend Vertreter von Wirtschaftsverbänden als Leiharbeiter in Ministerien Gesetzentwürfe formulieren, ist nur das Tüpfelchen auf dem i. Und dass nach einem höheren Posten in der Politik der nächste Karriereschritt ein Führungsposten in der Wirtschaft ist, folgt derselben Logik.
Dass der Staat die Autonomie fast aller Funktionssysteme nicht respektiert und sie irritiert, gehört meines Erachtens zu seinen Aufgaben: Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.
Die Frage, ob er sich in all diesen Bereichen engagieren sollte, ist berechtigt.
Die Antwort muss meiner Meinung nach lauten: Nur, wenn es wirklich um politische Fragen geht, das heißt, wenn es um kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung (wie ich der üblichen Definition gern hinzufügen würde) geht. Daher lässt sich die Frage auch verkürzen: Wozu brauchen wir den Staat und seine Institutionen? Die Antwort kann sowohl die Ausdehnung als auch die Begrenzung oder auch die Neudefinition und Neuordnung von Funktionen nahelegen.
Eine politische Frage, die politisch zu beantworten ist, d. h. durch öffentliche Auseinandersetzung, an deren Ende kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung stehen.
Wozu staatliche Wirtschaftsbesessenheit?
von Steffen Roth
Die Selbstbeschreibung des politischen Systems als Staat hat bekanntlich kaum Vergangenheit und wenig Zukunftsaussichten. Zum einen kennt unsere Weltgesellschaft Weltpolitik nur ohne Weltstaat. Zum anderen haben Funktionssysteme keine Adressen. Das Recht kann nicht klagen und die Wirtschaft nimmt keine Schecks an. Ein Staat aber kann Schulden machen oder zur Rechenschaft gezogen werden, und wo Staat nicht Person war, ist das ein Hinweis auf Organisation.
Wenn sich die Exekutive eines Staates nun dem Stalking einzelner Funktionssysteme verschreibt, dann kann man mit Fritz Simon die Spießrute auch umdrehen und die Verantwortung dem Opfer zuschreiben: Das aufreizende Verhalten der wirtschaftlichen Interessenvertreter lässt dem Staat keine Wahl. Er muss einfach immer wieder intervenieren. Auch in diesem Fall bleibt die Diagnose der politischen Überbeobachtung von Wirtschaft aber bestehen, und es liegt nahe, eine Therapie in weniger staatlicher Beobachtung von wirtschaftlichen Interessen zu sehen.
Insofern ist es eben doch mehr überliefertes Problem als innovative Lösung, wenn der Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen. Diese selbstverständlich legale Form der Korruption gelingt mehr schlecht als recht, was konsequent ist, hat sie doch mit der Kernfunktion des Staates kaum etwas zu tun. Aus dem verfassten Recht zur Gewaltmonopolisierung, -teilung und -kontrolle folgt jedenfalls kein Vorrang von politischen vor religiösen, wissenschaftlichen, ästhetischen und nicht zuletzt eben wieder rechtlichen Vorstellungen von Gesellschaft.
Wenn der Staat tatsächlich an Wirtschaftsbesessenheit leidet, dann lässt sich das nicht mit der nächsten eigentumsrechtlichen Gesprächstherapie entlang der Leitunterscheidung Privatisierung