Wir reden, noch. Norbert Philipp
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Corona und seine Folgen kamen um einiges vehementer angerauscht als die Digitalisierung. Auf den Etappen, die Letztere bis heute nahm, konnte man sich entweder entspannt auf sie einlassen oder sich zumindest allmählich mit ihr abfinden. Corona ließ im Frühling des Jahres 2020 dafür keine Zeit. Vieles, was technisch möglich war, theoretisch denkbar, wurde Tatsache und zwangsläufig. Manches, was wie digitale Zusatzfeatures des Lebens gewirkt hat, die man bei Bedarf zuschalten konnte, übernahm kommunikative Kernfunktionen. Und während sich die Tiefkühl- und Toilettenpapierregale in den Supermärkten leerten, füllte sich der Wortschatz mit neuen Begriffen. Schon Kinder wussten bald: „Videokonferenz“ ist jene Zeit des Tages, in der sich die Eltern Gesichtern widmen, die gar nicht da sind. Und dass man ihnen beim Reden zuschauen kann. Wenn die Kinder das Schlüsselwort hörten, wussten sie aber auch: Jetzt wird die Wohnung umgeschaltet. Von Kinderbetreuungsstätte auf Homeoffice. Bis sie am Nachmittag dann ohnehin wieder zum Yogastudio wird. Denn Corona hatte alle und alles nach Hause geschickt. Die Mitarbeiter der Unternehmen, selbst jener, die zuletzt vom Teleworking von zuhause wieder ins Büro gerufen hatten. Die Einkäufe und das Tagesmenü, auch sie trudelten von außen ein. Genauso wie die Lerninhalte und Aufgaben für die Schüler und Studenten. Aber auch die Ballettstunde, genauso wie alle möglichen Formen der Zeitverbringung à la „geselliger Abend“. Sogar der Österreichische Bundesverband für Psychotherapeuten aktualisierte seine Richtlinien: Er schaltete die Option „tele“ auch frei für die Therapie. Via Videosoftware oder auch schlicht via Telefon. Und gerade das, das Vorgänger-„tele“-Format der Internetkommunikation, das Telefon, wurde wieder häufiger zur Hand genommen als in den Jahren zuvor, vermeldeten die Telekommunikationskonzerne. Als wäre in zwangsläufig isolierteren Lebensphasen die weit verbreitete digitale Redekultur, also das gegenseitige Zuwerfen schriftlicher digitaler Häppchen, mit einem Mal doch nicht „sozial“ genug. Jedenfalls: So „tele“, „remote“ und „distant“ wie während Corona war das Leben seit Erfindung des Internets noch nie. Und das spielte natürlich jenen Unternehmen in die Hände, für die „Abstand“ schon immer zum Geschäftsmodell gehörte. Vor allem auch in der Kommunikation. Die Zahl jener etwa, die eine Software nutzten, von der sie früher nur gehört hatten, schoss rasant nach oben: Das Videokonferenzsystem „Zoom“ war mit 10 Millionen Usern in den Lockdown gestartet. Innerhalb kurzer Zeit stieg ihre Zahl auf über 200 Millionen. Als hätten die digitalen Kommunikationskanäle nur auf die Krise gewartet, um zu zeigen, was sie können. Vor allem auch einiges überwinden, was sich sonst einem Informationsfluss gern in den Weg stellt. Distanzen und sonstige Barrieren. Abstand halten und trotzdem in Verbindung bleiben, für digitale Medien war es die leichteste Übung. Und selbst paradox anmutende soziale Manöver schienen plötzlich digital ganz leicht zu gelingen: wie etwa den Zustand von „distanzierter Verbundenheit“ herzustellen. Selbst die noch ein wenig argwöhnischeren unter den Digitalskeptikern bemerkten: Einiges an kommunikativen Grundaufgaben kann man durchaus den digitalen Kanälen anvertrauen. Redaktionskonferenzen, Symposien, Workshops, Teammeetings, die ersten Runden von Bewerbungsgesprächen, Interviews – nur einige Formate, bei denen Videokonferenzen bewiesen haben: Sie können vieles an Kommunikationsbedarf abwickeln. Gleichzeitig haben sie aber auch noch etwas anderes klargelegt: wofür sie eher nicht taugen. Oder worauf man lieber wartet, bis man sich wieder „sieht“, tatsächlich und im gemeinsamen Raum, statt nur zu sehen – auf einem flachen Bildschirm. Ein spontanes zwangloses Gespräch lässt sich technisch nicht ganz so leicht herstellen. Schließlich muss man jedes Gespräch planen, ankündigen, terminisieren. Oder ein tiefgehendes Gespräch, in das man versinkt. Auch das lässt sich digital nicht ganz so einfach produzieren. Dafür ist die Gesprächsblase, die sich da zwischen dem einen und dem anderen Bildschirm aufbauen soll, viel zu fragil. Kaum ist sie mühsam gebildet, muss man sie ständig pflegen, aktivieren, vor dem Einsturz bewahren. Das ist anstrengend. Kognitiv vor allem. Auch weil ansonsten vieles hergestellt werden muss, was sich sonst wie von selbst ergibt – in analogen Begegnungen. Wie die Aufmerksamkeit etwa. Das heißt: Auch wenn die Verbindung technisch gelegt ist, sozial bleibt sie zerbrechlich. Irgendwie spürte man bald, nach der Euphorie darüber, was sich denn alles theoretisch digitalisieren ließe: diese kontaktlose digitale Kommunikation. Auch wenn immer mehr Gesichter auf Bildschirmen bei ihr mitmischen und selbst wenn sie vieles ersetzen kann, meist kann sie nicht mehr sein als ein gut gemeintes Substitut. Eine technische Behelfskonstruktion. Eine Art digitale Kommunikationsprothese. Auch weil sich etwas schon gar nicht einfach so „off“-schalten lässt wie der Laptop: die Sehnsucht nach Kontakt mit Kontakt. Nach haptischer und räumlicher Verbundenheit. Bei der die Signale das ganze Frequenzband der Kommunikation bespielen können, die eine soziale Interaktion normalerweise unterstützt – wenn man sich tatsächlich und analog gegenübersteht oder -sitzt. Deshalb freuten sich auch alle – trotz digitaler Verbundenheit – nach dem Lockdown und nach Wochen des ungelenken, teils teilnahmslosen, teils gestressten In-die-Kamera-Winkens auf eines: wieder zu „reden“, statt nur zu kommunizieren. Dabei auch mal in Ruhe schweigen zu können, ein paar Momente, um einem wichtigen Satz ohne Worte Nachdruck zu verleihen. Oder dem anderen mit einer Idee ins Wort zu fallen, ohne dass das Gespräch ins Stocken kommt. Oder dem anderen ganz genau und ganz nah dabei zuzuschauen, wie die Augenbrauen tanzen, die Augen lachen und die Gesten weiter ausholen, als sie müssten – beim ganz normalen, analogen Reden, von einem Gesicht zum anderen.
REDEN WIR ÜBERS REDEN
Das persönliche Gespräch – der Showdown der Kommunikation
„Wir müssen reden.“ Kaum ist das gesagt, weiß man: Jetzt wird’s ernst. Oder sogar wahrhaftig. So richtig live. Was man auch immer zuvor geschwafelt und geplappert hat, per WhatsApp so vor sich hergesagt, so beiläufig ins Smartphone getippselt – jetzt kommt der Showdown der Kommunikation. Jetzt entscheidet sich, wie das alles vorher wirklich gemeint war. Und den ganzen Chatverlauf des letzten Jahres auf dem Handydisplay liest man mitunter mit ganz anderen Augen. Purer und unmittelbarer kann das Gespräch nicht sein, das Basiskommunikationsformat, wenn zwei menschliche Gesichter im selben Raum zwischen sich eine Interaktionsblase aufspannen. Und darin ist das, was da phonetisch passiert, wenn aus Lauten Wörter werden, wahrscheinlich noch am einfachsten zu erklären. Zwei Gesichter im Austausch, im persönlichen Gespräch, das nennen die wissenschaftlichen Beobachter Face-to-Face-Kommunikation. Und wir wollen es auch so bezeichnen, wenn wir hier dringend einmal reden müssen, über das Reden. Oder darüber, was das persönliche Gespräch für Menschen und ihre Kommunikation leistet. Selbst der Digitalisierung ist bislang noch keine adäquate Alternative zum persönlichen Gespräch eingefallen. Obwohl sich natürlich alle digitalen Kanäle stets emsig bemühen, sich möglichst anzunähern. Diesem unerreichten Level eines Kommunikationsformats, das ontogenetisch ohnehin um so viel früher dran war in der Menschheitsgeschichte. Was die Digitalisierung auch erfunden hat, imitiert, ins Virtuelle übertragen: Die Qualitäten des Face-to-Face-Kontaktes, bei dem tatsächliche Augen in tatsächliche Augen schauen, diese kann sie noch nicht technisch reproduzieren. Das persönliche Gespräch ist die Grundlage des Zusammenlebens, der menschlichen Existenz und auch davon, wie man über beides nachdenkt. Denn gerade den Gedanken sagt man nach, dass sie sich erst wirklich formen, wenn sie ausgesprochen werden. Von den guten Ideen glaubt man das auch: Sie brauchen andere, mit denen sie sich Face-to-Face reiben können, damit sie zünden. Was man ausspricht, bekommt gleich eine andere inhärente Qualität, eine eigene und unmittelbare Wahrhaftigkeit, als das, was man lediglich denkt, irgendwo virtuell an Pinnwände hängt oder postet. Das Gespräch ist die „alltägliche Selbstvergewisserung“, schrieb einer der ersten, die sich mit ihm beschäftigt haben, Moritz Lazarus.1 Und aus dem Zitatenlexikon springt einem gleich noch ein kluger Spruch entgegen, einer, der sich aber eher auf die tiefgehenden Versionen bezieht: „Gespräche sind wie Reisen zu Schiff. Man entfernt sich vom Festland, ehe man es merkt, und ist schon weit, ehe man merkt,