Wir reden, noch. Norbert Philipp
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Doppelt „on“ und doppelt überfordert
Vom gegenseitigen Entlausen bis zum Selfie-Duckface ist viel geschehen. Früher bekritzelte man Höhlenwände, rollte Pergament aus, heute scrollt man über Websites, als wären sie digitales Pergament. Inzwischen hat man auch Zeichnungen von Leonardo da Vinci ins All geschickt, mit der Raumsonde „Pioneer 1“ in den 1970er-Jahren, genauso wie „Johnny B. Good“ von Chuck Berry auf goldener Schallplatte mit Voyager I., ein Give-away an Außerirdische, in der Hoffnung, dass sie ähnlich kontaktfreudig sind wie wir selbst. Man hat Esperanto erfunden und Englisch zum wirklichen Esperanto gemacht. Heute posten wir Nachrichten auf virtuelle Pinnwände, führen Gespräche schriftlich, dafür in Sprechblasen, damit es auch ein wenig mündlicher wirkt. Wir klopfen anderen auf die Schulter, indem wir auf Knöpfe drücken, die „Buttons“ heißen, aber trotzdem keine sind. Und all das, damit wir auch zum Geburtstag gratulieren können, ohne dass wir gleich einen Smalltalk-Looping dranhängen müssen. Was für Möglichkeiten! Befreundet sein, ohne sich getroffen zu haben, ein ganzes Jahr! Allen gleichzeitig zeigen, wer man ist, und nicht erst mühsam einem nach dem anderen, bis es alle kapiert haben. Yeah. Alle können es gleichzeitig erfahren, wie viel Spaß man hat. Und dass der Regionalzug wieder Verspätung hat, kann man zur internationalen öffentlichen Angelegenheit machen. Danke. Aber: Das alles kostet auch Energie. Schon die ersten zwei Kanäle, der angeborene und der erlernte, haben uns bis zum Abend müde gemacht. Und jetzt sind wir „always on“, aber dafür doppelt. Weil dem Menschen die eine Antenne nicht genug war, die eingebaute, die alles registriert, was man zum Überleben braucht. Nein, es musste auch die andere Antenne sein, die ausgelagerte, zugekaufte. Für alles, was man nicht zum Überleben braucht. Oder vielleicht auch gar nicht braucht.
Die digitale Beschleunigung
Alles ist anders. Man muss nur draufkommen, was es ist. Ein Restaurantmanager in New York wusste auch sehr lange nicht, was los war. Seine Umsätze waren eingebrochen. Erklärung hatte er keine. Bis er feststellte, es muss an den Handys liegen. Denn zwischen 2004 und 2014 hatte sich die Zeit verdoppelt, die Gäste im Lokal verbrachten. Allein bis sie sich am Tisch eingerichtet hatten, dauerte viel länger. Das Selfiemachen konsumierte Zeit, Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise zu posten auch, die Gäste konsumierten dafür weniger.8 Lokale sind zwar nur Nebenschauplätze des Lebens und der sozialen Transformation. Aber auch auf den Hauptbühnen laufen die Dinge heute anders als früher. Und das hat doch zu einem guten Teil damit zu tun, was sich da in der Hand der Menschen getan hat.
Dass genau dort jetzt das Smartphone liegt, als verlängertes Selbst, als erweitertes Ich, als ausgelagerte Kommunikationszentrale, die einst das Hirn war. Inzwischen halten wir die Gesichter der Menschen, mit denen wir reden, mit dem Handydisplay vor unsere eigenen, alle anderen blenden wir dafür aus. Wir suchen zwar noch immer Gesichter, aber wir suchen sie woanders. Deshalb verändert sich auch die Nackenmuskulatur. Weil die Augen woanders hinschauen, seltener nach vorne. Dass es ganz so drastisch wird, damit hat man wahrscheinlich nicht gerechnet. Doch das Irren gehört dazu beim In-die-Zukunft-Schauen. Schon andere haben die Zukunft mit ihren Prognosen weiträumig verfehlt: Kaiser Wilhelm II. glaubte eher an das Pferd als an das Automobil. Bill Gates glaubte an 640 Kilobyte Arbeitsspeicher. „Genug für jedermann“, mutmaßte er.9 Auch dass man im Internet Geld verdienen könnte, hielt er nicht für möglich. Selbst dem professionellsten In-die-Zukunft-Blicker kommt einmal eine falsche Zukunftsprognose aus. Die Aussage von Matthias Horx ist inzwischen auch schon Internet-Legende und verspräche viele Likes, würde man sie posten: „Internet wird sich als Massenmedium nicht durchsetzen.“ Das war im Jahr 2001. In der digitalen Ära ist das ungefähr so weit weg wie in der analogen Christi Geburt.10 Seitdem ist viel passiert, was ungefähr so aufregend war wie die Renaissance, die Entdeckung Amerikas und die Erfindung der Glühlampe in der analogen Ära. 2007 entdeckte Facebook auch etwas Weltbewegendes: Dass man sich bei Feedback feine Zwischentöne sparen kann: Der Like-Button wurde eingeführt. Harvey Ball entdeckte 1963, dass man zum Lächeln kein menschliches Gesicht mehr braucht. Der Smiley war erfunden. Und Shigetaka Kurita entwickelte Ende der 1990er-Jahre die Bildchen, die später als Emojis um die Welt gingen.
Jedenfalls hat die digitale Kommunikation ihren Beschleunigungsstreifen bis heute nicht mehr verlassen. Gerade hat man sich an Facebook gewöhnt, muss man sich schon von jenen, die in Facebook hineingeboren worden sind, erklären lassen, dass niemand mehr Facebook verwende. Die Lesebrille aufsetzen, am Handy den Radetzkymarsch als Klingelton, das verrät ungefähr genauso viel über das Alter, wie wenn man Facebook nutzt. Ein direkter Verweis in eine Lebensphase, in der man wahrscheinlich kein „Early Adopter“ mehr wird. Doch das Hinterherhinken ist eine analog-inhärente Bewegungsform: Digital eilt man schließlich voraus. So rasant, dass manche Beobachter nur noch staunend zusehen. Allein durch die analogen Räume bewegen sich die Menschen inzwischen so, als würden sie ständig etwas hinterherlaufen. Und bei näherer Betrachtung weiß man: Das stimmt auch. Sie rennen dem nach, was sie im abgewinkelten Arm vor sich hertragen, dem Lebensbeschleuniger, dem Smartphone. Früher stieg anderes zuerst in die U-Bahn ein, die Nase, die große Zehe, oder die Umhängetasche. Jetzt ist meist das Smartphone schon drinnen, wenn der Mensch folgt, der an ihm hängt. Kein Wunder, dass die Digitalisierung nicht nur die Muster, wie man sich bewegt, verändert. Sondern vor allem, wie man miteinander redet.
Die Gespräche, sie laufen anders. Wenn sie überhaupt ins Laufen kommen. Wahrscheinlich, so befürchten die Pessimisten unter den Kulturwissenschaftlern, wird auch das Produkt von vielen, vielen, vielen Gesprächen, also die Gesellschaft, bald eine andere sein. Höchstwahrscheinlich ist sie es schon. Wir haben’s nur nicht schnell genug bemerkt. Keine Angst, ein paar Konstanten werden schon bleiben: Vergemeinschaften wird sich der Mensch auch in Zukunft, das kann man ihm wohl so schnell nicht abtrainieren. Vor allem wenn ihn das Gehirn weiterhin mit Wohlgefühl belohnt, wenn er sich erfolgreich mit anderen verbindet. Ein Mittel zu diesem Zweck werden wohl auch in Zukunft Gespräche sein. Wie sie zustande kommen allerdings und welche Mittel sowie Zeichen man dafür einsetzt, das wirbelt die Digitalisierung gerade gehörig durcheinander. Würden die Sprachwissenschaftler alle Gespräche der Welt des heutigen Tages transkribieren, sie hätten deutlich weniger zu tun als noch vor zehn Jahren. Vor allem auch, weil ein Großteil davon heute längst schriftlich stattgefunden hat. Als E-Mail-Verkehr. Oder als Chat. Doch auch die tatsächlichen Face-to-Face-Gesprächskontakte könnten weniger werden. Allein weil die Gelegenheiten dazu verloren gehen. Denn Augenkontakt bräuchte man schon zumindest, offene Ohren wären auch nicht schlecht. Die einen richten sich überallhin, nur nicht dorthin, wo man gerade ist. Die anderen stöpselt man zu, damit man sich jenen Kontakten widmen kann, die einen ohnehin schon auf dem Handy begleiten.
Doch die überall grassierende Gesichtsvermeidung, sie beruht auf Gegenseitigkeit. Der andere will es ja auch so. Vor allem, wenn der andere ein Dienstleistungsunternehmen ist. Schließlich sind die „Interfaces“ der Automaten, die Designer kreieren, oft günstiger als die „Faces“, die sie ersetzen, zumindest in Großstädten. Und freundlicher noch obendrein. Wo früher Menschen waren, stehen heute Maschinen. Oft die charmantere Alternative. Mit manchen Vorteilen: Ticketautomaten stecken mit ihrer schlechten Laune die Kunden nicht an. Dafür das Grummeln der Kunden leichter weg.
Oft geht es aber natürlich nur darum, den Kunden einfach die Arbeit machen zu lassen. Wie an der Supermarktkassa. Oder beim Einchecken am Flughafen.11 Sogar in Situationen, von denen man dachte, hier kommt es zwangsläufig zum Gesichts-Showdown, ist das „Face“, in das man früher schaute, verschwunden: An manchen Flughäfen schaut man bei der Passkontrolle schon in eine Kamera. Statt ins strenge Auge des Beamten. Nicht nur Verkäufer, Kassierer und Rezeptionistin hat