Wir reden, noch. Norbert Philipp

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Wir reden, noch - Norbert Philipp

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Sean Parker: „Wie konsumieren wir so viel Zeit und bewusste Aufmerksamkeit wie möglich?“24 Klingt alles weniger nach Kollateralschaden als nach bewusster Manipulation, was da mit der Gesellschaft passiert. Auch der New Yorker Autor und Psychologe Adam Alter sieht das so: „Wir sind nicht hineingerutscht. Wir wurden geschubst.“25 Facebook, Instagram und Twitter holen sich die Aufmerksamkeit mit psychologischen Tricks. Um dem User gar nicht erst die Gelegenheit zu bieten, sich auch einmal ausklinken zu können. Die Folge: Soziale Medien wirken wie Drogen. „Digital Junkies“ geistern durch eine Welt, zu der sie selbst den Kontakt verlieren, weil sie ihre eigene nicht mehr so recht verlassen.26 Absurd scheint es jedoch, dass gerade jene, die uns abhängig gemacht haben, inzwischen auch erlösen wollen. Ein Drogenkartell mit eigener Entgiftungsabteilung: Google & Co. schicken ihre User auf „Digital Detox“. Ähnlich verwirrt war man zuletzt, als McDonald’s plötzlich Salat im Angebot hatte. Die Konzerne, die konsequent unsere Gehirne angeblich mit heimtückischen Strategien zersetzten, gerieren sich plötzlich als extrafürsorglich. Google etwa rief 2019 seine „Digital Wellbeing Experiments“ aus. Ein Substitutsprogramm für alle, die in die digitale Abhängigkeit geschlittert sind. Eine Ausformung davon hieß „Desert Island“, eine App, die auf dem Gedankenspiel „Was würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“ basiert. Denn man darf die nächsten 24 Stunden nur mit drei Apps verbringen. Und weil Google – ach – so besorgt ist, hatte der Konzern gleich noch eine absurde Idee: Das Google Paper Phone. Auch eine App, die Krönung der Verhöhnung. Alles, was man so für den Tag brauchen könnte, druckt man sich einfach aus und faltet es auf Smartphonegröße zusammen, den Wetterbericht, den Stadtplan, den Kalender. So soll man ohne Suchtverhalten durch den Tag kommen. Auch die Online-Verkaufstheke für virtuelle Ware, der App-Store, füllt sich mit Apps zur freiwilligen Selbstkontrolle. Oft kriegt man noch ein paar einfühlsame Worte in der Beschreibung dazu. Wie etwa von der App „Moment“, die uns gleich zu verstehen gibt, dass wir jetzt ganz stark sein müssen. „Wir verstehen, dass dein Handy dein Leben ist“, liest man dort. Damit man leise für sich selbst ergänzt: „Aber es macht dich depressiv und einsam. Sorry.“ Mit „Moment“ soll genau dieser wieder einem mehr selbst gehören als den Interessen einer Datenindustrie. Die App zeichnet einfach die Häufigkeit und Dauer der Handynutzung auf. Dabei gibt es auch Ansätze von analogen Lösungen, sich dem Sog der digitalen Kommunikation zu entziehen. Einen Vorschlag dafür hat etwa der Wiener Designer Klemens Schillinger entwickelt. Ursprünglich als künstlerische Position im Rahmen einer Ausstellung für die Vienna Design Week, das „Substitute Phone“. Die einzige Funktion, die es in sich trägt: Man kann es in der Hand halten. Es fühlt sich so an wie ein Smartphone und es ist auch genauso schwer. Ah ja: Man kann auch über Steinkugeln streichen, die statt eines Displays auf dem Gerät angeordnet sind. Ein analoger Gegenvorschlag zum digitalen Wischen. „Stein ist für mich auch das analogste Material, das es gibt“, sagt Schillinger. Und das „Substitute Phone“ tut, was es tun soll: Es beruhigt. Zwar nur den „User“, nicht die Experten, die sich um ihn und die Gesellschaft als Ganzes Sorgen machen. Ein Besuch in Japan hatte den Gestalter zur Idee geführt. Dort hatte Schillinger eine Beobachtung beeindruckt und verstört zugleich: die stumme, dystopische Choreographie, mit der die Menschen in der U-Bahn über ihre Handydisplays wischen – Telefonieren ist in Tokio in der U-Bahn verboten. Und noch etwas sei ihm aufgefallen, wie Schillinger erzählt. Dass Umberto Eco „ständig an einem Holzstaberl kaute, als er sich das Rauchen abgewöhnen wollte“. Ein beruhigendes Substitut muss her, dachte sich der Designer.

      Der digitalen Nähe-Distanz-Paradoxie hat etwa auch die amerikanische Soziologin Sherry Turkle nachgespürt, in einigen Büchern, die man am Ende nicht unbedingt optimistischer zuschlägt. Allein „Alone together“27 erzählt davon, wie Jugendliche zusehends verarmen, in ihren sozialen, realen Beziehungen. Und auch in ihren sozialen Kompetenzen. Turkle traut den Jugendlichen nicht einmal mehr zu, dass sie sich an einer Konversation sinnvoll beteiligen könnten, wenn sie zufällig doch in eine geraten. Die Aufmerksamkeitsspannen seien dafür einfach schon zu kurz.

      Aber schön doch, dass die Gehirne so anpassungsfähig sind. Ohnehin haben sie sich schon an eine Menge gewöhnen müssen. Jedes neue Medium mischt wie selbstverständlich die Nutzungskultur neu ab. Ein wenig verflucht und gefürchtet zu werden, gehört einfach zum Auftritt auf der Bühne der Gesellschaft dazu. Auch dem Roman im 18. Jahrhundert ist das so ergangen, wie auch der Zeitung im 19. Jahrhundert. Und im 20. waren schließlich die technischen Geräte die Vorboten des Untergangs. Denn bewährt hat sich: Sich etwas nicht so schlimmzureden, indem man es zunächst möglichst schlechtredet. Dafür haben Kommunikationswissenschaftler die Defizit-Hypothese parat. Diese meint, dass Innovationen in den Kommunikationstechnologien vor allem eines im Schilde führen: Irgendwie zu versuchen, ihre Nachteile und Schwächen gegenüber der Face-to-Face-Kommunikation zu kompensieren. Etwa so: Das mit der nüchternen Informationsübertragung, das klappte ja schnell schon ganz gut in der digitalen Sphäre. Aber die Emotionen, die schafften kaum den Sprung. Dafür sind dann eben die Emoticons, später die Emojis, kurzerhand eingesprungen.

      Irgendwann hat jedes Medium seine Nische gefunden. Auch damit die Menschen später wieder darauf zurückkommen dürfen, aus nostalgischen Gründen oder weil man plötzlich Qualitäten vermisst, die sich vielleicht doch nicht so leicht digital kompensieren lassen. Bei vielen liegt ja inzwischen auch die Füllfeder wieder neben der Computertastatur am Schreibtisch, wie man aus Lifestyle-Medien so hört. Und auf „Face-to-Face“ kommt man scheinbar ohnehin ständig wieder zurück, wenn online gar nichts mehr geht. Während man sich gerade damit abfindet, dass etwas wie FoMO (Fear of Missing Out) die jüngere Generation beschäftigt, scheint die Zeitgeistkurve ansatzweise ohnehin wieder in die entgegengesetzte Richtung abgebogen: hin zur demonstrativen Freude daran, eben nicht alles mitzukriegen: „The Joy of Missing Out“ heißt das dann.28 Die Vorlieben der Menschen bewegen sich in Loopings. Irgendwann kommen sie ohnehin wieder zurück auf das, was ursprünglich ganz selbstverständlich war: wie saisonal zu essen, was vor der Haustür wächst. Oder etwa in Überschwemmungsgebieten keine Häuser zu bauen. Beim miteinander Reden wird das genauso sein, malen die Optimisten die Zukunft der Kommunikation hell und zartrosa. Solange Face-to-Face-Kommunikation auch besser schmeckt und länger satt macht, sind viele digitale Chats dabei wahrscheinlich nicht mehr als die Mise en Place des späteren, eigentlichen Showdowns: Wenn man sich dann schließlich tatsächlich gegenübersitzt und dabei so viel Spaß hat, dass man ziemlich viele Smileys bräuchte, um das Gefühl auch digital zu „sharen“.

      Außerdem haben Forscher die Face-to-Face-Kommunikation ohnehin noch rechtzeitig als unersetzbar einzementiert, bevor sie zu arg ins Wanken geraten hätte können. Wie etwa mit jenen Aussagen von Gebhard Rusch von der Universität Siegen, Institut für Medienforschung, der die „Unverzichtbarkeit und Nichtsubstituierbarkeit der Face-to-Face-Kommunikation“ festgestellt hatte. Das war allerdings lange vor Facebook, Instagram und sinnvollen Video-Online-Konferenzsystemen. „Selbst für die Kommunikation im Cyberspace bleibt die regenerative Erfahrung der Face-to-face-Kommunikation als Basis menschlicher Verständigung und Kreativität notwendig“, meinte Rusch.29 Gut, dann hat man das einmal fixiert fürs Erste. Die Face-to-Face-Kommunikation bleibt unantastbar. Wie beruhigend. Aber wie verlässlich Prognosen sind, weiß man ja spätestens seit Kaiser Wilhelm, Bill Gates und Matthias Horx. Auf eines haben wir uns zumindest eine Zeit lang, ein paar tausend Jahre, verlassen können: dass wir wissen, wie man miteinander redet. Und was man dafür benutzen kann. Wir wussten, wie Gespräche funktionieren und dass da ein Gegenüber war, selbst wenn wir es irgendwann nur noch hörten, statt es zu sehen. Sogar wie man ein Gespräch anbahnt und ordentlich beendet, hat man sich abgeschaut, bei Mama, Papa, Lehrer, Peergroup. Mit den Zeichen, die längst ausverhandelt waren, bevor wir sie selbst mit Bedeutungen belasten konnten, wussten wir genau, was wir damit anrichten können. Mit Lesen- und Schreibenlernen, glaubte man schon, hätte man das Wichtigste erledigt. Für den Rest sind manche in die Tanzschule gegangen oder haben sich ein bisschen auf Gefühl und das, was man gern Hausverstand nennt, verlassen. Oder man hat es sich von Menschen erklären lassen, die einem vertrauenswürdig schienen. Wie etwa Adolph Freiherr Knigge. Schon er gab dankenswerterweise ein paar Hinweise für Situationen, in denen sich Mensch und Mensch in Ruf- und Sichtweite voneinander durch die Welt bewegen. Knigge hat manches formuliert, was heute als anachronistisch oder inzwischen ganz

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