Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Gunther Schmidt
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Sogar, wenn jemand lange Jahre sehr unter schweren Symptomen gelitten hat und sich selbst als völlig inkompetent für eine hilfreiche Entwicklung ansieht, trägt er dennoch alle relevanten Potenziale in sich, die für eine hilfreiche Lösung erforderlich sind. Diese wurden, so eben die weitere Annahme, aber offenbar massiv dissoziiert, sodass sie nicht mehr wahrnehmbar und zugänglich sind.
Aus dieser Sicht werden Menschen als „multiple Persönlichkeiten“ in einem sehr positiven Sinne gesehen (Schmidt 1986c), bei denen die jeweils gerade gelebte und erlebte „Persönlichkeit“ durch die Art der Aufmerksamkeitsfokussierung bestimmt wird. Je nachdem, wohin, d. h. auf welche der vielen möglichen Erlebnisbereiche, gerade fokussiert wird, wird man partiell zu jemand anderem, springt praktisch eine unserer vielen möglichen Persönlichkeitsvarianten ins Bewusstsein und „übernimmt die Regierungsfunktion“ (siehe auch Ornstein 1992). Quasi gibt es uns gar nicht als statische Wesen, wir er-finden und er-zeugen uns eigentlich Sekunde für Sekunde unseres Er-Lebens durch Fokussierung von Aufmerksamkeit. Auch Familien, ebenso Organisationen (Schmidt 1992a, b) zeigen eine Vielzahl von Organisations- und Interaktionsmustern und können daher auch als „multiple Familien“ beschrieben werden.
Priming
Hypnotisch wirkende Prozesse geschehen aber nicht nur im Traum oder in einer Hypnotherapie. Der gesamte Alltag, auch im wachen Leben, kann beschrieben werden als eine permanent fluktuierende und synchron zwischen mehr willkürlicher und mehr unwillkürlicher Fokussierung oszillierende Gestaltung der Wahrnehmung. Im Alltag allerdings organisieren die meisten Menschen dies so, dass die bewussten Fokussierungen oft ziemlich stark abgetrennt von den unwillkürlichen ablaufen (die dann unbewusst genannt werden), was ja nur dann zum Problem wird, wenn diese beiden Ebenen völlig konträr wirken und sich behindern (wie z. B. bei Symptomen).
Erkenntnisse darüber, wie massiv Prozesse der Aufmerksamkeitsfokussierung wirken, lassen sich aber nicht nur dank der Konzepte der Hypnotherapie gewinnen.
Auch andere Forschungsergebnisse belegen deutlich, wie intensiv Prozesse der Fokussierung von Aufmerksamkeit menschliches Erleben nicht nur mental, sondern auch physiologisch beeinflussen und gestalten. Viele Forschungen in der Sozialpsychologie, die unter dem Begriff „Priming“ subsumiert werden, belegen das eindrucksvoll (Higgins 1996; Bargh et al. 2001; siehe auch Storch u. Krause 2002). „Priming“ beschreibt Prozesse, durch die unbewusst physiologische Reaktionen, Haltungen, emotionale Reaktionen und Absichten aktiviert werden können. Zum Beispiel wurden bei psychologischen Experimenten verschiedene Gruppen gebildet, bei denen die Teilnehmer homogene Voraussetzungen mitbrachten, u. a. auch hinsichtlich ihrer körperlichen Befindlichkeit. Einer der Gruppen wurden Wörter zum Thema „Alter“ angeboten, aus denen Sätze gebildet werden sollten. Andere Gruppen bekamen Wörter mit der gleichen Aufgabe, aber zu anderen, neutralen Themen. Untersucht wurde aber nicht, wie viele Sätze gebildet wurden, sondern wie lange die jeweiligen Mitglieder der diversen Gruppen brauchten, um nach Verlassen des Raums, in dem der Test stattgefunden hatte, den langen Flur bis zum Ausgang des Gebäudes zu gehen. Dabei stellte sich heraus, dass die Gruppe, die Angebote (also ein Priming) zum Thema „Alter“ bekommen hatte, signifikant länger brauchte für den Weg als die Vergleichsgruppen, obwohl die Beteiligten körperlich genauso gut in Form waren. Aufgrund der längeren Kommunikation zum Lebensbereich „Alter“ als Fokus wurden offenbar sehr wirksam neuronale Netzwerke gebahnt, die auch zu wirksamen physiologischen Umschaltungen führten, ohne dass dies von irgendjemand aus der Gruppe bewusst angestrebt worden wäre. Die Beteiligten aktivierten also durch diese Fokussierung von Aufmerksamkeit ihr Potenzial, sich älter und langsamer zu bewegen (und wahrscheinlich auch, sich so zu erleben). Das Priming entspricht völlig identisch den Kommunikationsprozessen, die auch in einer Hypnotherapie ablaufen, insbesondere in einer indirekten nach den Konzepten von Milton Erickson. Dort werden keineswegs nur offizielle Tranceinduktionen der klassischen Art genutzt, sondern sogar überwiegend Gespräche, die zielgerichtet immer wieder Themen und Erlebnisprozesse fokussieren, die dem gewünschten Ergebnis dienen sollen („Konversationstrance“). Auch der „Solution Talk“ (anstelle von „Problem Talk“), wie ihn S. de Shazer vorschlägt, drückt genau das Gleiche wie das hier beschriebene Priming aus. Priming ebenso wie „Solution Talk“ und ähnliche fokussierende Gesprächsgestaltungen können mit indirekter hypnotischer Induktion gleichgesetzt werden.
Wenn man sich einmal klar macht, wie viele solcher fokussierenden Kommunikationsprozesse im Alltag auf uns einrieseln (Nachrichten, Werbung, übliche redundante Kommunikation am Arbeitsplatz, familiäre Kommunikation), wird deutlich, wie oft und wie unterschwellig intensiv wir im Alltag hypnotisiert werden und uns gegenseitig hypnotisieren, aber auch, wie oft wir uns z. B. durch innere Dialoge und andere Selbstkommunikationen selbst hypnotisieren, ohne es zu wollen. Oder wenn wir uns vergegenwärtigen, wie im Gesundheitssystem (welches ich lieber als Krankheitssystem bezeichnen möchte) – auch aufgrund der Bedingungen, welche die Krankenkassen setzen – in krass einseitiger Weise defizit- und pathologiefokussierend über Klienten kommuniziert wird und auch werden muss, wenn die Kasse bezahlen soll, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn alle Beteiligten, Helfer ebenso wie Klienten, einen sehr eingeengten „Tranceblick“ entwickeln, sodass kaum noch eventuelle Kompetenzen und Ressourcen bei den Klienten wahrgenommen werden können. Aus diesem Grund habe ich in der Fachklinik am Hardberg in der Abteilung für hypnosystemische Psychosomatik, die ich dort leite, seit langer Zeit eingeführt, dass wir die obligatorischen pathologieorientierten Berichte über Klienten systematisch durch Kompetenzberichte ergänzen, beide auch den Klienten zur Einsicht geben und sie bitten, die jeweilige Wirkung der Berichte auf ihr Erleben zu prüfen. So können wir wenigstens (kompetenzfokussierend gedacht) aus dieser Zwickmühle einen konstruktiven Nutzen machen (siehe auch das Kapitel Die Klinik als lernende Organisation).
Die regelhaften Muster im System als Tranceinduktion („Regeltrance“)
Auch die Erfahrungen mit den Priming-Experimenten