GEGEN UNENDLICH 16. Группа авторов

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GEGEN UNENDLICH 16 - Группа авторов

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keiner von beiden. Dann nahm der Mönch ihre beiden Hände in die seinen, beugte sich vor und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr.

      Das Mädchen schloss die Augen, als würde es in sich hineinlauschen.

      Eine Weile passierte nichts.

      Der Kapitän warf einen Blick zu dem alten Bild an der Wand, dessen Motiv er immer noch nicht erkennen konnte. Die Farben waren so ausgeblichen, dass man das Motiv erst erkennen konnte, wenn man nahe vor der Leinwand stand. Der Kapitän sah, dass das Bild eine Sternenkonstellation zeigte. Dieselbe Sternenkonstellation, erkannte sie, die ihr das gläserne Buch am Schluss gezeigt hatte.

      Eine Weile stand die alte Frau da und betrachtete das Bild. Sie hatte lange genug in die Sterne geblickt, um bemerkt zu haben, dass die Sterne über diesem kleinen Gesteinsbrocken dieser Konstellation entsprachen. Alles war so klar, aber der letzte Schritt erforderte häufig die größte Anstrengung.

      Ein Aufkeuchen riss sie aus ihren Gedanken. Aline lag auf dem Rücken und atmete schwer. Der Kapitän trat auf das Mädchen zu, aber der Mönch hob seine Hand. Ein Zittern durchlief den dünnen Körper. Das Gesicht, umrahmt von dem tiefschwarzen Haar, war kalkweiß.

      »Was ist mir ihr?«, fragte der Kapitän.

      Auf dem bleichen Gesicht des Mädchens lag ein Ausdruck des Schreckens, zwischen ihren zusammengepressten Lippen ragte der Stängel einer Rose hervor. Der Kapitän starrte auf den grünen, dornigen Stiel mit den tiefroten Blütenblättern, der Aline den Mund verschloss. Es war die eine Geschichte, von der sie noch immer träumte. Die erste, die ihr ihre Mutter erzählt hatte.

      Wir sehen das, dachte sie, was in uns ist. Was für ein merkwürdiger Ort!

      Bis heute gab es Menschen in den abgelegenen Ortschaften ihrer Heimat, die auf die Rückkehr des Rabenkönigs warteten. Die dem Glauben ihrer Vorfahren treu geblieben waren.

      Die alte Frau kniete sich neben das Mädchen, das mit schreckgeweiteten Augen ihren Blick suchte. Die Rose, die den Mund verschloss. Das Zeichen des Paktes.

      Der Mönch blickte sie erwartungsvoll an. In seinen dunklen Augen sah sie ihr nahes Ende.

      Es überraschte sie, dass es so enden sollte. Mit diesem Symbol aus ihrer Kindheit. Einer alten Legende, an der sie ihr halbes Leben nicht mehr gedacht hatte.

      »Hab keine Angst!«, sagte sie zu dem Mädchen.

      Jeder sieht nur das, was er kennt … In ihrem langen Leben hatte sie Leben entstehen und Leben enden sehen. Im großen Ganzen der Schöpfung spielte es keine Rolle. Aber das menschliche Herz sehnte sich nach Bedeutung, nach etwas, das blieb.

      »Kann ich hierbleiben?«, fragte sie den Mönch. »Wenn alles vorbei ist …«

      Er neigte seinen kahlen Kopf.

      Die Vorstellung, für ewig unter diesem Sternenhimmel zu liegen, erleichterte sie.

      Langsam beugte sie sich nach vorne und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. Ihre Finger fanden die Rose.

      »Zu den Sternen, mein Kind …!«

      Sie nahm die Rose von den Lippen des Mädchens.

      Aline keuchte auf, schnappte mit weitaufgerissenem Mund nach Luft. Der Kapitän hielt die Rose in beiden Händen. Sie brannte auf der Haut, als wäre sie ein Eiszapfen. Im nächsten Augenblick kam der Boden auf sie zu.

      Langsam atmete der Kapitän aus. Ihre alten Augen richteten sich zu der hohen Decke, über der sich das letzte Sternenbild ihrer sterblichen Existenz befand, weit aufgespannt in all seiner Pracht, in all seiner Dauer, die in menschlichen Maßstäben nicht zu messen war. Jemand beugte sich über sie und das Gesicht Alines sah auf sie herab. Sie hatte Tränen in den Augen.

      Der Torheit der Menschen, dachte die alte Frau ohne Trauer, da aller Schmerz von ihr abfiel.

      Das Licht nahm um sie herum ab, und sie hatte Mühe, Aline zu erkennen. Ihr Kopf fühlte sich so lebendig wie nie zuvor, aber ihr Körper stellte nach und nach seine Funktionen ein. Wie ein Baum, dachte sie, der kurz bevor er stirbt noch einmal austreibt.

      »Ich wollte doch nur meine Eltern wiedersehen«, flüsterte Aline.

      Die alte Frau wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Die älteste Vereinbarung von allen. Ein Ende für einen Anfang.

      Mühsam öffnete sie ihre Hände, aber sie waren leer.

      Langsam fuhr sie mit den Fingern durch das Gras und pflückte ein Gänseblümchen ab, die einfachste unter den Blumen des Waldes, aber wie ein ganzes Universum voller Wunder in der Hand.

      Lukas Vering: 137

      Von unserem schmalen Balkon aus wirkt unsere neue Stadt wie ein Labyrinth zum Ausmalen. Solche, die auf den Rückseiten von Müslischachteln abgedruckt sind. Oder auf den Papierunterlagen von Fast-Food-Läden. Doch würde ich einen Stift nehmen und einen Weg durch den Irrgarten zeichnen, würde ich immer nur in Sackgassen enden. Da müssen Abbiegungen und Auswege sein, die ich in der vagen Beleuchtung einfach nicht sehen kann. Das bisschen Licht, das einen Weg durch die dichten, staubfarbenen Wolken findet, bleibt irgendwo in den obersten Stockwerken der hohen Gebäude hängen. Hier unten bleibt uns dann nichts als das gelbe Schimmern der Straßenlaternen und das blaue Flickern der Computerbildschirme.

      Hinter mir dringen lauter werdende Stimmen durch die dünne Balkontür. Sie streiten wieder. Über Dinge, die sie nicht mehr ändern können. Die sie niemals hätten ändern können. Die sich niemals ändern werden. Sie sind wie eingesperrte Wildkatzen, immerzu laufen sie auf und ab in ihrem kleinen, engen Käfig aus Plastik, bis sie die Geduld verlieren und aufeinander los gehen. Dann werden ihre Worte zu krallenbesetzten Pranken, die verletzen wollen. Ich habe schnell gelernt, nicht zwischen ihre Fronten zu geraten. So wird man nicht verletzt, wenn Wut und Verzweiflung aus Eltern Wildkatzen machen. Aber Wildkatzen, hat Mutter schon so oft gesagt, sind ausgestorbene Wesen. Sie weiß, dass Gleiches in unserer neuen Stadt schon bald auch für Eltern gilt.

      Ich kenne einen Trick, um aus dem Kreuzfeuer zu fliehen. Ich muss mich nur über das Geländer schwingen, die Füße ins Leere baumeln lassen, bis sie den unter uns liegenden Balkon finden und dann loslassen. Nach vier Balkonen erreicht man ein Flachdach, von dem aus eine Feuerleiter bis hinab in eine enge Gasse auf der Straßenebene führt. Die Plastikwände der Wohnblöcke sind in der Gasse so nah, dass ich die Arme nicht ausstrecken kann. Schaut man von hier nach oben, sieht man nur Wände, Brücken, Kanten und Ecken. Alles aus dem gleichen, farblosen Plastik gegossen, dass sie aus den vergifteten Meeren gefischt und mit hierher gebracht haben. Irgendwo dazwischen erhascht man mit viel Glück einen Fetzen Himmel. Orange, beige, staubig, blass, aber gefüllt mit einer Idee von weit entferntem Sonnenlicht. Wenn man das Gesicht in Richtung so eines Fetzens streckt und die Augen schließt, könnte man beinah glauben, so etwas wie Wärme auf seiner Haut zu spüren. Aber viel davon dringt nicht durch die Plastikglocke, die unsere neue Stadt umgibt. In den Pflichtlektüren unserer neuen Schule habe ich gelesen, dass die Glocke uns vor Staub, Wind und Strahlung schützt. Und dass sie derzeit immer noch daran arbeiten, dass die kleinen Partikel im Material der Glocke einen strahlend blauen Himmel simulieren. Vielleicht, wenn es soweit ist, könnten sie dann auch ein bisschen Wärme vortäuschen.

      Ich verlasse die Gasse und betrete die Straße. Sie ist nicht viel breiter, nur ein Gehweg. Die wirklich breiten Straßen, auf denen die Tube verkehrt, sind die einzigen Schneisen, die sich durch die dichte Stadt fräsen. Alles

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