Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Markus Väth
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Noch im 17. Jahrhundert dozierte der englische Philosoph John Locke: Arbeit nur um der Arbeit willen ist gegen die menschliche Natur. Arbeit muss getan werden, um Essen auf dem Tisch zu haben, für Geld, für Kleidung und ein Heim. Arbeit hieß seinerzeit, mit der Sonne aufzustehen, sein Tagwerk zu verrichten und abends müde auf den Strohsack oder das Bett zu fallen. Ohne Perspektive, Karriereplanung oder Rentenabsicherung. Allein die Adligen konnten aus diesem Mechanismus ausbrechen: Sie mussten gar nicht arbeiten, sondern konnten sich der Kunst, der Wissenschaft oder der Religion widmen. Schnöde Arbeit verwirrte den Geist und hielt einen ab von der Betrachtung der schönen Künste, den Studien der Mathematik und den diplomatischen Verpflichtungen. Arbeit bedeutete in der Regel Knochenarbeit und war ein Garant für körperliche Schäden, frühes Altern und einen stillen Tod. Bauern und Handwerker konnten ein Lied davon singen.
Mit der Aufklärung setzte sich ein bislang unbekanntes Phänomen durch und eroberte langsam, aber sicher die Arbeitswelt: das Büro. Der Autor Hajo Eickhoff pointiert scharf, dass im 17. und 18. Jahrhundert »Beamte, mathematisch versierte Kaufleute und Versicherungsexperten, Geistesarbeiter und Kanzleiarbeiter erst zu Büromenschen erzogen werden [mussten]. Denn nicht nur der Mensch ordnet das Büro, sondern das Büro zwingt den Menschen in eine neue Ordnung des Denkens, Fühlens und Verhaltens.« Und weiter: »Eine Begleiterscheinung der Aufklärung ist eine gewisse Verdunkelung und Begrenzung des Menschen, denn Büroarbeit ist Verlust an Licht und an Beweglichkeit. Im Büro ist das Tageslicht vermindert, die frische Luft reduziert, ein strenges Einhalten von Zeit erforderlich und vielfach Bewegung und Beweglichkeit eingeschränkt.«3
Das Büro hat die Arbeitswelt verändert.
Wie erfreulich. So manche Bankfiliale oder Amtsstube verströmt heute noch den Charme eines möblierten, dunklen Erdlochs, aus dem Freude, Sonnenlicht und Kreativität als verbannt erscheinen. Laut Eickhoffs Betrachtungen randalierten damals tatsächlich einige Adlige mit Waffengewalt, weil sie ihren Alltag nicht einem stereotypen Büroablauf unterwerfen wollten. Es wäre wahrhaft ein Schauspiel, flögen heute Schreibtische durch Fenster, geworfen von adrett gekleideten Büromenschen mit Zornesröte im Gesicht.
Noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, nach zwei Weltkriegen und einer Gesellschaft im Schockzustand, war Arbeit ein notwendiges Übel, dem man aus Geldgründen nachging. Legal oder auf dem Schwarzmarkt. Auch die Möglichkeit der Berufswahl war eher gering ausgeprägt. Bauern vererbten ihre Höfe an den Sohn, Handwerksbetriebe gingen an die Kinder über. Ebenso größere Firmen, bei denen man, zum Beispiel bei den Unternehmerfamilien Quandt oder Merck, die Grundlagen und Verläufe der Deutschland AG nachzeichnen konnte. Ein weiteres Gesicht der Arbeitslandschaft waren die »Trümmerfrauen«, die nach 1945 zum Symbol des deutschen Wiederaufbaus wurden. Sie versinnbildlichten harte Arbeit, ohne viel zu fragen, eine aus Leid geborene Schaffenskraft, die sich zu Recht als historische Leistung quasi in den genetischen Code der deutschen Nachkriegsgesellschaft eingeprägt hat.
Erst mit den 68ern und ihrer pädagogischen, intellektuellen und sexuellen Revolution stellte man auch im Bereich der eigenen Arbeitsleistung die Frage nach dem Warum. Eine Verbreiterung der Bildungswege, das dreigliedrige Schulsystem und die zunehmende Definition der eigenen Persönlichkeit durch Arbeit wurden zum Bestandteil des kollektiven Unterbewusstseins nach dem Wirtschaftswunder. Bis in die heutige, schnelllebige Zeit der Job rotation hinein gehört das »Du kannst tun, was du willst«-Mantra zum Selbstkonzept vieler qualifizierter Fachkräfte und Wissensarbeiter. Oder, wie es mein damaliger Studienberater beim Arbeitsamt ausdrückte: »Psychologe? Warum nicht? Wenn schon arbeitslos, dann doch wenigstens in einem Beruf, der Ihnen Spaß macht.« Ich muss zugeben, dass mich diese Begegnung in meinem Verhältnis zur staatlich regulierten Arbeitsvermittlung einigermaßen geprägt hat.
Während der letzten 60 Jahre hat die Bedeutung der Arbeit für das eigene Selbstbild einen enormen Wandel durchlaufen: Man arbeitet nicht mehr (nur) um des Geldes willen, weil man den Betrieb geerbt hat oder weil man einfach nichts anderes machen konnte, als Schornsteinfeger in Obertraubling zu werden. Der Beruf als solcher ist zu einer, wenn nicht gar der entscheidenden Stütze des Selbstkonzepts geworden. Die eigene Arbeitsleistung ist heutzutage Ausweis einer individuellen Sinnstiftung und damit umfangreicher Teil der eigenen Identität.
Heute bilden die 20- bis 30-Jährigen den genauen Gegenpol zu ihrer Eltern- und Großelterngeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg Tritt fassen mussten. Ging es in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren vor allem darum, auf dem Schwarzmarkt zu handeln, jeden Job anzunehmen und irgendwie durchzukommen, hat die heutige junge Generation vor allem das Süßwarenladen-Problem: Es gibt so viele Möglichkeiten der Berufswahl, dass wir überwältigt sind und gar nicht wissen, wohin wir zuerst greifen sollen. Weil wir heute so frei wählen können, sind wir für unsere Wahl und deren Ergebnis umso mehr verantwortlich. Darum tun wir alles, was möglich ist – und im Burnout auch darüber hinaus –, um uns und der Welt zu bestätigen, dass unsere Wahl richtig war und wir die Meister unseres Lebens sind. Und weil im Süßwarenladen von Beruf und Karriere sehr viel von unserer Wahl abhängt, überwältigt uns das Angebot bis zur Frustration. Aus Angst, im Leben gleich zu Beginn einen falschen Pfad einzuschlagen, geraten auf diese Weise junge Leute neuerdings in eine Art Schockstarre.
Der Beruf ist zu der entscheidenden Stütze des Selbstkonzepts geworden.
Die junge Journalistin Nina Pauer liefert dazu eine hellsichtige Analyse. »Was uns umtreibt, ist die schizophrene Panik davor, unser Leben falsch zu leben«, schreibt sie. Die heutige Generation der 25- bis 35-Jährigen sei besessen von der Angst, im Leben etwas zu verpassen. Gleichzeitig fürchte sie, sich nirgendwo wirklich zu verwurzeln und damit eine Verpflichtung über ein rasches Dahingleiten im Strom des Lebens hinaus einzugehen. Man binde sich nicht mehr an eine Stadt, einen Partner, einen Verein, eine Kirche. Man unterliege der zwanghaften Vorstellung, ständig mobil sein zu müssen, seine Zelte abbrechen zu können, sich aufzumachen zu einer besseren, passenderen, einträglicheren Lebensperspektive. Pauer nennt das die Jagd nach der »richtigen Version unserer selbst«. Der Segen unseres multioptionalen Lebens sei gleichzeitig dessen Fluch: Alles ist möglich.4
Grundsätzlich ist es zwar nicht schlecht, wenn die Arbeit zum »Glück spendenden Grund« des eigenen Lebens wird, wie Viktor Frankl, Psychotherapeut und Begründer der Logotherapie schreibt. Doch Frankl, der große Denker und Verfechter eines sinnerfüllten Lebens, erkannte genauso die Gefahr, die einer entgrenzten Sinnsuche innewohnt. Im Gegensatz zum Tier, dozierte er, gebe es beim Menschen keinen ursprünglichen Instinkt, der ihm sage, was er tun müsse. Und in unseren modernen Zeiten, in denen sich traditionelle Rollenbilder und soziale Verbindungen zunehmend auflösen, habe er auch keine Vorgabe aus Tradition oder Familie mehr, was er tun solle. Als Ergebnis versage der heutige Mensch darin, zu wissen, was er grundsätzlich wolle.5
In der Konsumwelt findet man ein ähnliches Phänomen: Die Konsumforschung hat herausgefunden, dass der Kunde zwar grundsätzlich Wahlfreiheit will, jedoch ebenso schnell überfordert ist, wenn zu viel Auswahl herrscht. In Studien der Textilindustrie wurde