Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Markus Väth
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Der moralische Blackout
Neben der Überhöhung der Arbeit und der Gefahr des Erfolgswahns gibt es eine dritte Kraft, die Burnout als kollektivem Phänomen in der Gesellschaft den Boden bereitet: der Verlust ethischer Institutionen und das Austrocknen ehemals vermittelter allgemeingültiger Werte.
Von alters her gab es in allen Kulturen Institutionen, die gesellschaftliche Werte beziehungsweise Moral vermittelten: bei den Germanen den Thing, die Versammlung der Ältesten, bei den sogenannten Naturvölkern Medizinmänner und Stammesälteste. Im heutigen Deutschland könnte man noch den Ethikrat der Bundesregierung nennen (allerdings scheinen dessen Debatten und Entscheidungen eher abstrakt und sind für eine individuelle moralische Stilbildung eher ungeeignet). Über alle Zeiten und Zonen hinweg bildete sich allerorten ein in der jeweiligen Gesellschaft gültiger moralischer Kompass heraus, an dem der Einzelne sich orientieren konnte.
Wir erleben eine Erosion moralischer Autoritäten.
In unseren Breiten haben grundsätzlich einige Institutionen das Potenzial, in einer gesellschaftlichen Dimension ethische Richtlinien zu entwickeln und als Standard zu etablieren: die Kirchen, die Familie als Schutz und Stütze, die Politik, Wirtschaftsführer, sogar stilprägende Einzelpersonen. Von allen diesen Institutionen ist heute nicht eine übrig geblieben, die in einer gesellschaftlichen Debatte über Werte oder Phänomene, die alle Menschen betreffen, für den Großteil ebendieser Menschen sprechen könnte. Dies zeigt beispielsweise die Debatte um eine Schrumpfung der sogenannten Volksparteien, die inzwischen von so wenigen Menschen gewählt werden, dass selbst parteiintern die Bezeichnung »Volkspartei« diskutiert wird.
Warum ist das so? Als Beispiel für die moralische Erosion möchte ich auf drei der obigen Gruppen eingehen: die Kirchen, die Politik und das wirtschaftliche Establishment:
Die Kirchen
Sie sind im Moment auf dem Tiefpunkt ihrer moralischen Glaubwürdigkeit angelangt. Pädophile Priester – katholisch wie evangelisch –, die sich an Knaben vergehen, Bischöfe, die solche Fälle vertuschen, eine unzeitgemäße Kommunikation, die weite Teile der Bevölkerung nicht mehr erreicht – das sind die Höhepunkte einer Negativ-Karriere, die die Kirchen nachhaltig diskreditiert haben. Neuesten Zählungen des Statistischen Bundesamtes zufolge hat in Deutschland die Zahl der amtlichen Atheisten, auf deren Lohnsteuerkarte unter »Religionszugehörigkeit« eine Leerstelle prangt (28 Millionen), erstmals die der Katholiken (25 Millionen) und die der evangelischen Christen (25 Millionen, ohne Freikirchen) überholt.
Natürlich sagt das nichts über einen »Atheismus des Herzens« aus. Immerhin können auch wahre Atheisten aus den christlichen Zehn Geboten eine Soziallehre ziehen, die an Eleganz und Universalität schwer zu überbieten ist.11 »Du sollst nicht töten« oder »Du sollst nicht lügen« stellen Basisforderungen einer menschlichen Gemeinschaft dar, die auch ein Pfeife rauchender, taz lesender Sartre-Fan bejahen dürfte. Selbst innerhalb der christlichen Kirchen gibt es Strömungen, die Jesus nicht als Gottes Sohn, sondern als genialen Menschen und Begründer einer durchschlagenden Soziallehre betrachten. In diesem Sinne bildet das Christentum auch für Nichtchristen im Konzentrat der Zehn Gebote einen derart grundlegenden Ethik- und Moralkodex ab, in dem sich wahrscheinlich sehr viele Menschen wiederfinden.
Die Kirchen haben sich aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen.
Es ist daher geradezu ein PR-GAU, dass es beide großen christlichen Kirchen (die griechisch-orthodoxe nicht mitgerechnet, die in unseren Breiten keine nennenswerte Rolle spielt) nicht geschafft haben, trotz dieser konzeptionellen Steilvorlage wenigstens punktuell eine ethische Diskussion zu entfachen und so als wichtige Stichwortgeber und moralische Instanzen im Gespräch zu bleiben: Wo sind die Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz oder des Evangelischen Kirchenrats, wenn es um Integration geht, um die Sarrazin-Debatte? Wo ist die klare, intellektuelle Kirchenstimme, die sich des Themas »Arbeit und Glück« unter christlichen Vorzeichen annimmt? Durchweg Fehlanzeige. Dagegen ist die Gründung der ersten kirchlichen Unternehmensberatung schon ein positives Zeichen. Man wolle, auch als Gegenbewegung zur Gier der Finanzkrise, wieder Werte in die Wirtschaft einbringen und die »Sinnfrage« stellen, so der verantwortliche Generalvikar Clemens Stroppel.12 Man wünscht sich mehr solcher Alternativen der Verzahnung von Kirche mit Wirtschaft und Politik. Die Minimalerwartung wäre ein fruchtbarer Dialog, ein Sich-Reiben an gegensätzlichen Weltsichten und Prioritäten.
Doch solche Initiativen sind selten. Die Kirchen haben mit ihrer halb altertümlichen, halb geheimen Kommunikationspolitik vor allem eines erreicht – den Rückzug vom Tisch der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Kirchen haben sich aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen. Und nicht nur das: Inzwischen verkaufen sie auch ihr ureigenstes Territorium an den Höchstbietenden, wie beispielsweise in Düsseldorf.13 Nur der Papst ruft manchmal hörbar, doch wenig dialogbereit aus Rom herüber. Ein Umstand, der mehr zum allgemeinen Verdruss beiträgt als diesen beseitigt.
Die Politik
Der Vertrauensindex der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) bringt das Trauerspiel an den Tag: Nur noch 13 Prozent der europäischen Bevölkerung vertrauen ihren Politikern.14 Vergleichbar schlechte Werte erreichen nur noch Werbeleute und Manager. Das ist umso besorgniserregender, als diese drei Gruppen – Politiker, Manager und Werber – jede auf ihre Art einen bedeutenden Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Debatte haben.
Politiker sollten die großen demokratischen Linien ziehen und Stichwortgeber sein in aktuellen Fragen, sei es zur Arbeit, zur Verteidigung oder zur Strategie für einen gesunden Haushalt. Politiker sind im besten Fall Staatsmänner oder -frauen mit sichtbaren Überzeugungen und einem ethischen Grundverständnis, das diesen Namen verdient. Einem Willy Brandt, einem Helmut Schmidt, sogar einem Helmut Kohl in Zeiten der Wiedervereinigung gelang es, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Der vielleicht letzte Politiker dieses Formats war der bayerische Landespolitiker Sepp Daxenberger, der Mitte 2010 im Alter von nur 48 Jahren an Krebs starb. Über alle politischen Lager hinweg wurde sein Tod betrauert. Daxenberger verkörperte wie kein Zweiter eine gelungene Mischung aus klarer Sprache, Prinzipien, Authentizität und rauem Charme.
Doch die Zeiten der Personalisierung durch Profil neigen sich dem Ende zu. Politiker erhalten im günstigen Fall den Status eines Popstars, dessen Halbwertszeit abläuft, wenn die Druckerpressen kalt werden. Daran änderten auch die Fotos nichts, die Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg vor Dinosaurier-Kulisse aufnehmen ließ. Was will er nur damit sagen? Ich fress’ euch alle? Oder: Ich überleb’ euch alle, bis mich ein Meteorit oder die eigene Dissertation hinwegrafft? Immerhin waren zu Guttenbergs Fototermine, ob auf Fels mit Ehefrau oder in einer Militärmaschine – schneidig in der Mitte stehend, die Untergebenen in Tarnjacke zu ihm aufblickend –, heroische Versuche eines visuellen Statements der Stärke. Ihr seid das Meer, ich der Leuchtturm. Für die profillose Politikerlandschaft war Guttenberg damit zunächst ein Glücksfall, denn die Mehrheit seiner Arbeitskollegen atmet nur die dunkle Kellerluft des unsichtbaren politischen Betriebs. Doch leider hat auch er sich nun – wie weiland Ikarus – durch Überheblichkeit und Selbstüberschätzung ins Aus geschossen. Und wie so oft war nicht der eigentliche Fehler die Ursache für den Untergang, sondern der Umgang damit. Denn genau die wachsweiche Prinzipienlosigkeit und das scheibchenweise Herausrücken mit der Wahrheit haben die Bürger wieder einmal in ihrem Vorurteil von der »Arroganz der Mächtigen« überzeugt.