MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka. Группа авторов
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Smolkas Stück handelt »Von Regen, einem Fenster, Dächern, Schornsteinen, Tauben und so … und Eisenbahnbrücken auch«. Die verschiedenen Klänge werden wie Filmsequenzen hart aneinandergeschnitten. Ihre Auflistung erweitert der Komponist im Werkkommentar zu einem Tableau seiner Heimatstadt: »Prag. Das Antlitz einer Stadt. Die einzige Regung darin, in den letzten Jahrzehnten, war ihr Verfall. Die Gebäude wurden langsam baufällig, rostig, öde … Schleichender Tod.« Im Sinne von Beethovens berühmtem Motto zur Pastoral-Sinfonie »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« geht es auch Smolka – kaum anders als sinfonischen Dichtungen von Bedřich Smetana und Antonín Dvořák – weniger um ein naturalistisches Porträt der Moldaumetropole. Indem er statt menschliches Sprechen, Singen, Lachen oder Pfeifen ausschließlich Klänge toter Alltagsgegenstände transkribiert, wirken diese umso eindringlicher klagend, gerade wegen ihrer mechanischen Leblosigkeit. Schon im frühen Stück Music, Sweet Music für Sopran und Ensemble (1985–88) hatte Smolka das Quietschen und Ruckeln eines Jahrmarkt-Karussells nachgeahmt. Bestimmend ist dabei seine Absicht, traditionelle Kategorien des Musikalischen zu durchbrechen, um die Wahrnehmung sowohl für die Musikalität von Gebrauchsdingen zu öffnen als auch das Mechanische eine eigene berührende Expressivität und Poesie entfalten zu lassen.7 Rain, a window … vollzieht eine Art Mimikry an die nicht-musikalische Lebenswelt. Das Resultat ist ein akustisches Stillleben aus tönenden Gegenständen, deren Monotonie, Starre und Langsamkeit melancholische Belle Tristesse verbreitet. Naturalismus dient hier der Expression. Denn eigentliches Thema sind die Gefühle und Erinnerungen angesichts der nach 1989 im Zuge von Modernisierung und Renovierung zunehmend verwestlichten tschechischen Hauptstadt. Im Werkkommentar schreibt Smolka über das Stück: »Aber letztendlich handelt es von bitterem Vergnügen und ist eine absurde Nostalgie: jetzt vermisst man, was man früher gehasst hat.«
Zwischen das Quietschen mischen sich ab T. 131 sanft geschlagene Gongs und Glocken. Der akustische Blick aus der Prager Dachkammer weitet sich zum Panorama der unter Rost, Ruß und Smog erstickten ›Goldenen Stadt‹ mit ihren vielen Kirchen und Glockentürmen. Und mit erneut einsetzendem ›Regen‹ und mikrotonal versetzten Liegetönen schleicht sich auch wieder die vor 1989 herrschende quälende Lähmung des ›realexistierenden Sozialismus‹ ein. Alles scheint unverändert weiterzugehen wie bisher. Doch plötzlich bricht lauter Lärm los: Scheppern, Hupen, Pfeifen wie von dröhnenden Baggern, Baumaschinen, Schlagbohrern, Presslufthammern, Schuttkippen. Ab T. 214 wirbeln Snare Drum und Große Trommel, rasseln Metallobjekte auf den sfff angeschlagenen Klaviersaiten und hechelt das Akkordeon schnelle a-Moll-Akkorde. Die skordatierte E-Gitarre brüllt fff mit rockigen Verzerrungen auf, die Streicher betätigen lärmende Rasseln und Klöppel, und das Quietschen der Bläser steigert sich zu schrillem Kreischen. Später kommen hämmernde ff-Unterarm-Cluster auf weißen und schwarzen Tasten hinzu. Mit krachendem Aktionismus und schnellem Tempo Viertel = 200 hält eine hektische neue Zeit Einzug. Die alte Stadt – respektive das bisherige Stück – wird umgekrempelt. Erst ab T. 395 lässt das Wüten wieder nach. Dem energetischen Mittelteil folgen erneut Liegetöne der Bläser wie zu Anfang. In T. 442 spielt die Bassflöte im ruhigen Tempo Viertel = 60 erstmalig eine durchgehende Folge absteigender Vierteltöne, eine Art mikrotonal gestauchter passus duriusculus. Eine ähnlich absteigende Vierteltonmelodie der Flöte in Flying Dog für Ensemble (1990–92) nannte Smolka »ein ideales Medium für den Ausdruck einer etwas traurigen, matten Nostalgie«.8 An die Stelle transkribierter Klänge toter Gegenstände und Maschinen tritt nun der Tonfall eines mit menschlichem Atem hervorgebrachten Klagelauts. Den Schlussteil (T. 502–569) prägen schwebende Liegeklänge der Blechbläser »maestoso« mit leicht erhöhter Quinte und vierteltönig exakt zwischen Dur und Moll liegender Terz (Notenbeispiel 2). Die Forte-Signale sollen möglichst lange im Saal oder auf dem pedalisierten Saitenchor der beiden Klaviere nachhallen. Es sind Imitationen von Hupsignalen schwerer Diesellokomotiven, die im Tal oder zwischen den Häusern der Stadt widerhallen, wie sie der Titelzusatz »… and railway-bridges, too« gleichsam als Coda ergänzt. Mit abfallenden Glissandi zeichnen diese Klänge auch den Dopplereffekt vorüberfahrender oder in Tunnels verschwindender Züge nach.9 Die solenne Schönheit der majestätischen Klänge wird kurz von zwei Einbrüchen des vorherigen ›Baulärms‹ und kreischend hoher Holzbläser wie von schnelleren Nahverkehrszügen unterbrochen. Den Charakter von Abfahrt, wehmütigem Abschied und Ende, vielleicht auch Requiem, unterstreichen schließlich Röhrenglocken, die – nach dem Anschlag in Wasser getaucht – ebenso leicht abwärts glissandieren.
Notenbeispiel 2: Martin Smolka, Rain, a window, roofs, chimneys, pigeons and so … and railway-bridges, too für Kammerensemble (1991/92), T. 502–509, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2003
Smolka malt in Rain, a window … ein vielfarbiges Soundscape des alten und rasch sich transformierenden Prag von großer Plastizität, räumlicher Tiefenstaffelung, situativer Assoziations- und atmosphärischer Suggestivkraft. Die Prosa des klingenden Alltags entfaltet eine ganz eigene poetische Ausdruckskraft. Zugleich lässt sich diese Musik auch nicht-programmatisch als rein artistisch-sinnliche Klangkomposition hören, deren permanent abgewandelte, gegen- und übereinander geblendete Pattern an Stücke von Feldman erinnern. Mit der Uraufführung durch das damals junge Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Johannes Kalitzke bei den Donaueschinger Musiktagen 1992 reihte sich Smolka in den Kreis von Komponisten und Komponistinnen ein, die regelmäßig bei internationalen Konzertreihen und Musikfestivals aufgeführt werden. Seine Musik erwies sich als eigen und zugleich im Trend sowohl der westlichen ›New Simplicity‹ von Feldman, der US-amerikanischen Minimal Music, der westdeutschen sogenannten ›Neuen Einfachheit‹ als auch vieler anderer osteuropäischer Komponisten, deren Rezeption im Westen durch das Ende des Kalten Kriegs zwar nicht ausgelöst, aber befördert wurde, und die mit teils ähnlich reduzierten und betont traditionellen Materialien eine neo-tonale, häufig auch sakrale oder spirituelle Musik schrieben, wie etwa der Ungar György Kurtág, die Polen Krzysztof Penderecki und Henryk Mikołaj Górecki, der Georgier Gija Kantscheli, der Este Arvo Pärt, der Ukrainer Valentyn Silvestrov und der Lette Pēteris Vasks.
II Neues und Altes: Remix, Redream, Reflight (2000)
Notenbeispiel 3: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 27–36, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000
Spannungen zwischen alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart prägen auch Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), uraufgeführt vom BR-Symphonieorchester bei der Münchner musica viva. Zu Anfang werden schnell zwischen Registern, Instrumentengruppen und Lautstärken wechselnde Akkordfolgen wiederholt. Die Pattern geraten nur stellenweise durch Verkürzungen oder Einschübe aus dem Tritt. Im Kontrast dazu spielen Bläser und Streicher dann sanfte Moll-, Dur- und Quartsextakkorde, die analog zu den vorigen rhythmischen Verschiebungen durch zeitlich variable Sechsteltonskalen gleiten. Ab T. 21 steigen Flöten und Oboen – letztere ausdrücklich schrill wie ein Dudelsack – legato vom des zu des+ und d– bis zu d und weiter an (Notenbeispiel 3). Die Ausgangstonart b-Moll changiert fließend nach B-Dur. Gesetzte Harmonien geraten ins Fließen, gehen verloren, werden umgeschmolzen, wiedergefunden oder überhaupt neu gebildet. Die Harmonik, Dynamik, Lage und Instrumentation der Akkorde erinnert an bekannte klassisch-romantische Musik. Man hört eine alte Schönheit, deren Magie und metaphorischer Wechsel von Moll und Dur direkt berühren und zugleich als unwiederbringlich vergangen erfahren werden, weil sie zerfließen wie die schmelzenden Uhren auf Gemälden von Salvador Dalí. Laut Smolkas Werkkommentar handelt es sich um Schlussakkorde aus bekannten Orchesterstücken, vor allem von Berlioz,