MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka. Группа авторов
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Notenbeispiel 4: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 127–136, nur Streicher, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000
Nach einem ersten Rückgriff auf die schnellen Repetitionen des Anfangs beginnt T. 131 ein neuer Abschnitt »appassionato« (Notenbeispiel 4). Alle Streicher spielen f-unisono eine schnell aufsteigende Geste »espressivo molto« aus Quinte c – g, nachfolgendem Viertelton as–, übermäßigem Tritonus d und vierteltönig verengter kleiner Terz f–. Tonales Zentrum ist zunächst ein mikrotonal geschärftes f-Moll. Dann kreisen Erweiterungen des Aufschwungs um c-Moll mit dramatischen Abbrüchen und Generalpausen. Die Melodie ist Smolkas eigene Erfindung, weckt aber sofort Erinnerungen an andere Musik. Wie im Werktitel angekündigt handelt es sich um das »Redream« eines romantischen Topos wie beispielsweise vom solistischen Anfang der Violinen im Adagio-Kopfsatz von Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Smolka gestattet sich »ein so altmodisches romantisches Ausdrucksmittel wie den expressiven Einklang symphonischer Streicher«.11 Er komponiert unmittelbar expressive Musik und zugleich im Wissen um deren historische Verwandtschaft ›Musik über Musik‹. Eine zweite Reprise der repetitiven Anfangsakkorde ab T. 187 verkehrt insofern die Verhältnisse, als die Pattern jetzt nicht mehr die Regel bilden, sondern die Ausnahme innerhalb eines ständig variierten Gefüges, in dem ab T. 231 auch die expressive Streicher-Melodie wiederkehrt. Der letzte Abschnitt (T. 288–381) besteht dann ausschließlich aus Rückblick – im Werktitel als »Reflight« bezeichnet. Bestimmendes Element sind hier obligate Tonpendel, die zuvor nur vereinzelt auftraten und jetzt um a-Moll zentriert durch alle Register und Instrumente wandern. Dynamisiert wird diese in sich bewegte, äußerlich jedoch statische Textur durch schnell vom pp zum fff anschwellende Repetitionsfolgen der Violinen, die sich teils mikrotonal überlagern und endlich in den aus Beethovens »Allegretto« stammenden a-Moll-Schlussakkord auslaufen. Wie zum Anfangsakkord scheppert dazu blechern ein Peking-Opern-Gong, der während des gesamten Stücks hier zum zweiten Mal seinen verbeult wirkenden Klang hören lässt, als wollte er – wie der Schellenkranz in Mahlers 4. Sinfonie – die dazwischen beschworene romantische Kunstmusiktradition in ironisierende Anführungszeichen setzen, weil alles nur Oper und nicht so ernst gemeint gewesen sei: »Typical for my work […] is to juxtapose against these moods oposite expressions like furore or grotesque.«12 Im Werkkommentar zu Remix, Redream, Reflight gesteht Smolka:
»Ehrlich gesagt, ich bin der zeitgenössischen Musik schon etwas überdrüssig geworden. Und so habe ich versucht, ein Problem zu lösen, das an die Rätsel in Märchen erinnert: Wie kann man Komponist bleiben und weiterhin Musikwerke schreiben, dabei aber alles andere produzieren als zeitgenössische oder Neue Musik?«13
Indem sich Smolka gegen linearen Fortschritt wendet, plädiert er wie einst der junge Wolfgang Rihm gegen ein auf Vermeidungsstrategien basierendes »exklusives« und für ein »inklusives Komponieren«, das vergangene Entwicklungen einbezieht.14 Tonale Harmonik, diatonische Melodik und nicht durch die Popindustrie korrumpierte authentische Volks- und Bluesmusik mit dialektaler Färbung und mikrotonalen Abweichungen verwendet er beispielsweise auch in Walden, the Destiller of Celestial Dews für gemischten Chor und Schlagzeug (2000), uraufgeführt vom SWR Vokalensemble bei den Donaueschinger Musiktagen. Dabei versteht er die »diatonic melodies with ›blue‹ notes and tonal triads detuned by microtones as tool of painful expressivity«.15 Die vertonten Textstellen aus Henry David Thoreaus Walden, or Life in the Woods (1854) bringen Smolkas Liebe zur Natur und deren Schönheit zum Ausdruck sowie seine Kritik an Naturausbeutung, Umweltzerstörung und Skepsis gegenüber Moderne, Zivilisation und Urbanität. In Oh, my admired C minor für Ensemble (2002) huldigt er dem c-Moll-Dreiklang, dessen Terz er vierteltönig zwischen Dur und Moll changieren lässt und dessen Quinte er teils zur verkleinerten Sexte erhöht, sodass mikrotonale Aufrauungen und Reibungen – ähnlich der Musik von Giacinto Scelsi – immer wieder leittönige Spannungen entfalten wie in tonalem Zusammenhang sonst große Septimen oder phrygische kleine Sekunden. Entscheidend für Smolka ist dabei die Gleichzeitigkeit von Fremd- und Vertrautheit der Klänge: »What I enjoyed most was a certain duality: sounds that were simultaneously unheard of and familiar. Familiar and therefore evocative, awakening deep memories or dream-like fantasy.«16
III Klangnatur und Naturklang: Semplice (2006)
Semplice für neue und alte Instrumente (2006) schrieb Smolka für das auf Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisierte Freiburger ensemble recherche und das auf Musik des 17. und 18. Jahrhunderts mit historischen Instrumenten konzentrierte Freiburger Barockorchester. Während das erste Ensemble in der modernen Grundstimmung Kammerton a′ = 440 Hz spielt, ist das zweite mitteltönig auf a′ = 415 Hz gestimmt, was dem gis′ in moderner Intonation entspricht. Uraufgeführt wurde Semplice unter Leitung von Lukas Vis bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 neben weiteren Werken für dieselben zwei Ensembles: Chris Newmans Piano Concerto No. 2 – Part 2 (2006) und Wolfgang Mitterers Inwendig losgelöst.17 In der Partitur erscheint das moderne Ensemble I oberhalb des Ensembles II für historische Aufführungspraxis. Sämtliche Tonhöhen sind so notiert, als wären alle Instrumente auf 440 Hz gestimmt. In den Einzelstimmen des tiefer intonierten Barockensembles sind die Tonhöhen daher alle einen Halbton höher notiert, damit sie dann wie in der Partitur klingen. Was auf den ersten Blick einheitlich erscheint, verdankt sich in Wirklichkeit Instrumenten verschiedener Stimmung, Bau- und Spielweise. Bei den zwei Flöten handelt es sich um eine moderne Querflöte in Metallbauweise (auch Pikkolo und Bassflöte) sowie eine barocke Traversflöte aus Holz ohne Klappen. Das Solistenensemble für neue Musik zeigt epochentypische Besonderheiten in Klarinette, präpariertem Klavier und umfangreichem Schlagzeug mit Vibrafon, Röhrenglocken, Steel Drum und Gongs. Dagegen verfügt das Barock-Consort über je zwei Barockoboen und Naturhörner sowie über Fagott, Cembalo, Chitarrone, vier-, drei- und zweifach besetzte hohe Streicher, ein Violoncello und einen Kontrabass, jeweils bespielt mit Barockbögen auf Darm- statt Stahl- oder Kunststoffsaiten. Smolka möchte die beiden Ensembles verbinden und zugleich ihre individuelle Klangkultur erfahrbar machen. Im Werkkommentar schreibt er: »Old instruments should keep their tone culture and their typical baroque articulation, as far as this musical material makes it possible.«
Satz I des sechssätzigen Werks zeigt die für Smolkas Komponieren typische Kombination aus Einfachheit und Komplexität sowie von phänomenalem Zeigen und sprechendem Ausdruck. Während der ersten 20 Takte bestehen sämtliche Einsätze nur aus kleinen Terzen e – g in verschiedener Oktavlage, Instrumentation, Dynamik, Dauer und Spielweise. Einst beleuchtete Franz Schubert wiederkehrende Themen durch immer andere Harmonisierungen, nun macht Smolka dies mit einem einzigen Intervall. Statt Variationen über ein Thema komponiert er solche über eine Terz. Der tonalen Konformität eines reduzierten Tonvorrats stellt er einen umso größeren Reichtum an nuancierten klanglichen Individualitäten gegenüber (Notenbeispiel 5). Im langsamem 4/4-Metrum schlägt zunächst der Cembalist die Terz e′′′ – g′′′ mp an. Während die Töne drei Viertel lang verklingen, kommen Violine und Viola von Ensemble I mit derselben Terz eine Oktave tiefer pp col legno battuto hinzu und schlägt der Perkussionist