Qualitätsunterschiede. Ralf Becker

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Qualitätsunterschiede - Ralf Becker Blaue Reihe

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als Risiken zu quantifizieren, und die Stochastik liefert dafür die Methodik. Mathematische Verfahren sind von Menschen für bestimmte Zwecke ersonnene Techniken. Auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wissenschaft und Technik, das dem weit verbreiteten Irrtum entgegensteht, Technik sei bloß angewandte Wissenschaft, wird mit Blick auf die Naturwissenschaften noch zurückzukommen sein. In Hinsicht auf ›politische Zahlen‹ steht dagegen die »›Soziotechnik‹ des Verwaltens und Regierens«16 im Mittelpunkt.

      In der Covid-19-Pandemie 2020 konnte man die Dialektik politischer Zahlen gut beobachten. Einerseits waren alle Regierungen gut beraten, die frühzeitig den Rat von Epidemiologen und Virologen eingeholt haben, um möglichst schnell Maßnahmen gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu ergreifen. Andererseits erfolgte ebenso schnell eine politische Fetischisierung epidemiologischer Bezugsgrößen – wie Verdopplungszeit, Basisreproduktionszahl (»R Null«), die relative Zahl der Neuinfektionen pro Zeit oder die Kapazität verfügbarer Intensivbetten – mit zeitlich wechselnder Relevanz. Gelegentlich sahen sich medial besonders präsente Virologen genötigt, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass Wissenschaftler keine politischen Entscheidungen fällen, sondern lediglich Grundlagen für dieselben bereitstellen. So boten die Wochen, in denen eine ganze Bevölkerung gebannt auf ›die neuen Zahlen‹ wartete, nicht nur eine Möglichkeit, etwas über die Logik wissenschaftlicher Forschung und die ihr inhärente epistemische Produktivität von Irrtümern zu lernen, sondern auch, sich den Qualitätsunterschied zwischen wissenschaftlichen und politischen Fragen klarzumachen. Spätestens die Mahnung des Bundestagspräsidenten, dem Lebensschutz nicht alles andere unterzuordnen, eröffnete eine Debatte über genuin politische Ziele, die nicht sinnvoll mit Zahlen geführt werden kann.

      Qualitätsunterschiede spielen auch in den neuesten Gegenwartsdiagnosen von Hartmut Rosa (2018) und Andreas Reckwitz (2019) eine bedeutende Rolle. Nach Rosa ist der moderne Mensch darum bemüht, die Welt beständig in Reichweite zu bringen und in einem vierfachen Sinne verfügbar zu machen: Das Unsichtbare soll sichtbar, das Unzugängliche erreichbar, das Unbeherrschbare beherrschbar und das Natürliche nutzbar werden. Beherrschen und Berechnen verwendet Rosa durchweg als Hendiadyoin: »Verfügbarmachung der Welt bedeutet, sie berechenbar und beherrschbar zu machen«.17 Die »Effekte« einer Resonanzbeziehung, für Rosa Ausdruck eines gelingenden Selbst- und Weltverhältnisses, lassen sich dagegen »weder berechnen noch beherrschen«.18 Dieselben Mittel, die der moderne Mensch einsetzt, um sich in der Welt einzurichten, verhindern daher, dass er dieses Ziel erreicht, wenn die Mittel an die Stelle der Zwecke treten.

      Für Reckwitz ist die Spätmoderne durch Singularisierung charakterisiert: »Während die industrielle Moderne […] auf der Reproduktion von Standards […] basierte und man von einer ›Herrschaft des Allgemeinen‹ sprechen konnte, ist die spätmoderne Gesellschaft an der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, sie ist an der Prämierung von qualitativen Differenzen, Individualität, Partikularität und dem Außergewöhnlichen orientiert.«19 Reckwitz zeigt damit, dass nicht nur Zahlen, sondern auch Qualitätsunterschiede einen Fetischcharakter annehmen können. Man denke nur an die Bedeutung der ›feinen Unterschiede‹ (Bourdieu) von Produkten und Ereignissen, Reisen und Wohnungseinrichtungen, Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidungsstilen, Film- und Musikgeschmäckern und was sie über Personen aussagen, die sich darüber unterscheiden wollen, indem sie jeweils das Besondere, Einzigartige und Außergewöhnliche suchen. Nicht selten werden aber gerade auch die solcherart zu Scheinsingularitäten fetischisierten Qualitätsunterschiede in Zahlen gemessen: sei es der höhere Preis, den man für ein Tablet auszugeben bereit ist, sei es die niedrigere Zahl der Individualreisenden im Gegensatz zur Masse der Pauschaltouristen oder sei es der Unikatstatus eines maßgeschreinerten Möbelstücks.

      In seiner »Theorie der digitalen Gesellschaft« (2019)20 leitet Armin Nassehi die Quantifizierung aus einer fundamentalen Digitalisierung ab. Die Digitalisierung lässt er nicht erst mit dem Einsatz von Computertechnologie beginnen: »Nicht der Computer hat die Datenverarbeitung hervorgebracht, sondern die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten, die Stadtplanung und der Betrieb von Städten, der Bedarf für die schnelle Bereitstellung von Waren für eine abstrakte Anzahl von Betrieben, Verbrauchern und Städten/Regionen.«21 Deshalb verortet Nassehi den Beginn der Digitalisierung der Gesellschaft in der »Frühzeit der Moderne« und sieht das »Bezugsproblem für die Entstehung einer digitaltechnischen Verarbeitung von Informationen […] weniger in dem quantitativen Aspekt einer Erhöhung von Berechnungsbedarf«, sondern »eher in der qualitativen Veränderung gesellschaftlicher Komplexitätslagen«.22 Unter Komplexität versteht Nassehi »die Musterhaftigkeit des Verhältnisses von Merkmalen zueinander«.23 Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Steigerung solcher Merkmalsbeziehungen (in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Recht, Politik, Arbeit usw.) aus, deren Muster durch Digitaltechniken wie Sozialstatistik allererst freigelegt werden müssen, um sie steuern zu können.

      Nassehi macht quantifizierende Verfahren von der Digitalisierung der Gesellschaft abhängig und nicht umgekehrt. »Die digitale, statistische Entdeckung der Gesellschaft findet die quantifizierbare Form der Gesellschaft nicht einfach vor, sondern muss diese Quantifizierungen durch Kategorien erst zählbar machen.«24 Für Maus Kritik am ›metrischen Wir‹ hat Nassehi folglich nicht viel übrig: »[E]s ist ein großes Missverständnis, unter der Digitalisierung schlicht nur die Zählbarkeit und die Quantifizierung des Sozialen zu verstehen.«25 Mit anderen Worten: das ›Quantifizierungsregime‹ ist selbst ein Effekt eines tieferliegenden Qualitätsunterschieds zwischen modernen, digitalen und vormodernen, analogen Gesellschaften.

      Qualitätsunterschiede II

      Die Differenz zwischen Quantifizierung und Digitalisierung verweist auf einen weiteren Qualitätsunterschied, der mit Blick auf die folgenden Untersuchungen begrifflich erfasst sein will. Unter Quantifizierung (von lat. quantum für ›Größe‹ und facere für ›machen‹) soll ganz allgemein das Herstellen einer zählbaren Größe verstanden werden. In einem sehr weiten Sinne kann man jeden Zählvorgang als eine Form der Quantifizierung auffassen. Es scheint jedoch etwas übertrieben, das Abzählen der im Kühlschrank befindlichen Eier als einen Akt des Quantifizierens zu beschreiben, muss hier doch die Zahlform nicht erst hergestellt werden, da jedes Ei eine von jedem anderen Ei klar abgegrenzte Einheit bildet. Etwas anderes ist es dagegen, den Wert einer Packung Eier durch ein Geldquantum, den Preis zu bestimmen. Auch die Messung einer Strecke durch die Anzahl von Schritten ist etwas anderes als die ›Messung von Wärme‹ durch die Ablesung eines Thermometers. Nicht extensive, wohl aber intensive Größen können im engeren Sinne quantifiziert werden, da für Wärme, Lautstärke, Schärfe oder Farbintensität die Zahlenförmigkeit allererst hergestellt, eben gemacht werden muss, während Ausdehnung bereits ein Quantum besitzt. Quantifizierende Handlungen verfolgen das Ziel, qualitative Unterschiede in quantitative Differenzen zu übersetzen. Es liegt hier eine echte metabasis eis allo genos, ein Übergang in eine andere Gattung vor.

      Das Wort Digitalisierung leitet sich vom lateinischen digitus für ›Finger‹ ab. Die Metapher verweist auf das Abzählen diskreter Einheiten an Fingern. Kinder lernen auf diese Weise den Sinn von Zahlen kennen. Stellvertretend für unsere Finger operieren wir üblicherweise, weil es praktischer ist, mit Ziffern. Der Mathematiker Claude Shannon hat 1948 den Ausdruck binary digit eingeführt, um eine Maßeinheit für den Informationsgehalt einer Nachricht zu finden. Die kleinste Einheit ist demnach 1 Bit, das ist der elementarste Informationsgehalt, der in einem von zwei möglichen Zuständen enthalten ist, z. B. ja oder nein (siehe Kap. 3). In gewisser Hinsicht ist Digitalisierung daher die Quantifizierung von Information. Der Ursprung in der Nachrichtentechnik legt jedoch nahe, Digitalisierung als ein Phänomen sui generis zu begreifen, und dies aus mindestens zwei Gründen: Zum einen hat der Informationsbegriff im Zuge der Digitalisierung eine solche Ausdehnung erfahren, dass es nicht sinnvoll erscheint, die Reihe:

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