Qualitätsunterschiede. Ralf Becker
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KAPITEL1
Kulturphänomenologie als kritische Theorie
»The mystique of science proclaims that numbers are the ultimate test of objectivity. […] If […] quantitative data are as subject to cultural constraint as any other aspect of science, then they have no special claim upon final truth.«
STEPHEN JAY GOULD: The Mismeasure of Man (1981)68
Phänomenologie der kulturellen Praxis
Die folgenden Studien sind einem moderaten Kulturalismus verpflichtet. Kulturalistisch ist der hier vertretene Ansatz insofern, als er in der Kultur eine notwendige, unhintergehbare Bedingung von Objektivität identifiziert. Menschen humanisieren ihre Umwelt von Bedeutsamkeiten zu einer Welt von Bedeutungen durch spezifisch menschliche Tätigkeiten wie Arbeit, Kultus, künstlerische Produktion, sprachliche Begriffsbildung, wissenschaftliche Erkenntnis und vieles mehr. Die Kategorie der Bedeutsamkeit verweist auf den Vitalbereich der unmittelbaren Lebensbewältigung, Bedeutung setzt dagegen die geistige Aktivität des Abstandnehmens durch symbolische Repräsentation voraus. Nahrung ist bedeutsam für jedes Lebewesen, die Repräsentation von Nahrungsmitteln auf einem Einkaufszettel, in einer Kalorientabelle oder in einer Koch-Show vermittelt Bedeutungen von etwas als etwas für jemanden. Kultur ist nicht nur die Welt dieser Bedeutungen, sondern auch und zumal der Praktiken, die Bedeutungen zwischen Menschen verbreiten. Die Inter-Subjektivität solcher symbolischer Tauschprozesse ermöglicht erst Objektivität. Es gibt keine andere Objektivität von Aussagen über die Wirklichkeit als Intersubjektivität (und Transsubjektivität, wie wir noch sehen werden). Objektive Geltung kann nur eine Behauptung für sich beanspruchen, die der Prüfung durch andere standzuhalten vermag.
Freilich entscheidet intersubjektive Anschlussfähigkeit allein, systemtheoretisch ausgedrückt: die erfolgreiche Anschlusskommunikation, nicht über berechtigte Geltungsansprüche. Die Wirklichkeit muss sich unsere Grillen auch gefallen lassen – sie ist nicht einfach ein gesellschaftliches Konstrukt. In Abgrenzung vom Kulturrelativismus wird im Weiteren von einem moderaten Kulturalismus ausgegangen. Moderat ist dieser insofern zu nennen, als er die Kultur nicht für eine hinreichende Bedingung von Objektivität hält. Menschliche Aktivitäten vollziehen sich nicht nur in einem geistigen, sondern auch in einem Horizont natürlicher Vorgegebenheiten. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Außengrenze kultureller Praxis liefert die Technik. So mögen die Zwecke, zu denen Werkzeuge erfunden werden, kulturell und historisch variieren – die Erfolgsbedingungen für ihre Funktionalität tun es nicht: Das Wozu ihres Einsatzes verweist auf Gründe, das Warum ihrer Wirksamkeit auf Ursachen, die in der Natur beschlossen liegen. Die kulturübergreifende Kumulativität technischen Know-hows ist ein starkes Argument gegen den Kulturrelativismus.69 Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden, und spätestens in der Moderne machen technische Errungenschaften schnell die Runde um den Globus. Die Ubiquität von Technologie ist so stark, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den Kulturen, in denen sie Verwendung findet, nur allzu leicht übersehen werden.
Mit Platon könnte man die beiden Aspekte, die der moderate Kulturalismus als konstitutive Faktoren menschlichen Handelns anerkennt, Gründe (aitiai, wörtlich: Ursachen) und Ursachen (synaitiai, wörtlich: Mitursachen) nennen. Letztere sind genau jene Wirkmechanismen, ohne die Erstere keine Ursachen sein können. Dort, wo man sich eines Mittels bedient, um etwas zu tun, muss dieses Mittel auch wirksam sein. Platon dehnt diese Zweckrationalität sogar auf den menschlichen Körper aus: Aus welchen Gründen ich auch immer handele, das Gelingen der Handlung hängt auch davon ab, ob ich bestimmte körperliche Bewegungen oder Leistungen auszuführen in der Lage bin. Es ist jedoch absurd zu behaupten, Sokrates sitze im Kerker, weil sein Körper die Zelle nicht verlassen habe; so wie es ebenfalls absurd wäre zu meinen, ich befinde mich im Kino, weil meine Beine mich dorthin geführt hätten.70 Dieser Absurdität macht sich der Naturalismus schuldig. Die zentrale These des moderaten Kulturalismus könnte man auch auf den Satz zuspitzen: Gründe sind nicht aus Ursachen ableitbar. Die Anerkennung des Eigensinns natürlicher Mitursachen setzt dagegen einem starken Kulturalismus Grenzen, dem zufolge die Welt des Menschen ausschließlich durch Bedeutungen verfasst sei.
Methodisch versteht sich der skizzierte moderate Kulturalismus als Kulturphänomenologie71 und orientiert sich konkret an den genealogischen Überlegungen, die Husserl Mitte der 1930er Jahre zur Geometrie angestellt hat, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Gemäß dem leitenden Erkenntnisinteresse werde ich die Kulturphänomenologie mit Blick auf die Wissenschaften als eine Phänomenologie kultureller Praxis darstellen. Wissenschaft ist eine menschliche Tätigkeit zur Humanisierung der Welt, die wie jede andere Praxisform ein teleologisches Profil aufweist und gemeinsam mit anderen Praxisformen in die Kultur als humanisierte Welt eingebettet ist.
Unter einer Phänomenologie kultureller Praxis verstehe ich eine Kulturphilosophie, die wenigstens diese fünf Bedingungen erfüllt: Sie folgt, erstens, dem Intentionalitätsparadigma. Die kulturstiftenden Leistungen und Tätigkeiten sind intentionale Akte, die einen Richtungssinn haben. Erfahrung ist keine bloß passive Aufnahme eines An-sich-Gegebenen, sondern ein interessegeleitetes Tätigsein: »Alles Erfahren als ein Tätigsein ist interessiert, ist Tun in Interessen, auf Ziele, unmittelbare oder mittelbare, hin.« Insofern ist die »objektive Erfahrungswelt« eine »Welt der Praxis«. Auch Wissenschaft ist stets von Erkenntnisinteressen geleitet, die Theorie selbst eine »eigenartige wissenschaftliche Praxis«.72 Die Bezugnahme (z. B. Erfahren) hat den systematischen Vorrang vor den Bezogenen. Intentionalität ist keine statische